Dreyfus-Krise[1]. Diejenigen, die in den Ausschreitungen der unbotmäßigen Generale oder der Nationalisten Vorboten eines dritten Staatsstreichs nach dem Vorbild der beiden früheren erblickten, haben es unterlassen, sich das Fazit der ganzen sozialen Entwicklung Frankreichs in den letzten dreißig Jahren zum Bewußtsein zu bringen. In diesem Zeitraum haben sich nämlich im Schoße der französischen Gesellschaft große Verschiebungen vollzogen, deren Ergebnis im allgemeinen sich dahin zusammenfassen läßt: Die Republik, die in den beiden früheren Fällen erstickt wurde, bevor sie noch die revolutionären Schlacken abgestreift hatte, hat hier zum ersten Male die Möglichkeit gehabt, lange genug zu dauern, um in ein normales Dasein zu treten und der bürgerlichen Gesellschaft zu beweisen, daß sie sich ihren Interessen in so glänzender Weise anzupassen weiß wie keine Monarchie der Welt.
Das Gros der Bourgeoisie ist zum ersten Male in der Dritten Republik zur ungeteilten politischen Herrschaft gelangt, die sie nun seit dem Ende der siebziger Jahre durch die fast kontinuierlichen opportunistischen Ministerien und Kammermehrheiten ausübt. Die Kolonialpolitik und der Militarismus Frankreichs sowie im Zusammenhang damit seine riesige Staatsschuld zeigen, daß die Republik in diesen lukrativsten Unternehmungen der Bourgeoisie es mit jeder Monarchie aufnehmen kann. Das Panama und die Südbahnaffäre[2] haben endlich bewiesen, daß das Parlament und die Verwaltung der Republik sich durchaus nicht weniger bequem zum Werkzeug der kapitalistischen Plusmacherei gebrauchen lassen als der politische Apparat des orleanistischen Königtums.
Für das Kleinbürgertum erwies sich die Dritte Republik als der klassische Nährboden, indem sie durch die Staatsschuldenwirtschaft wie den unaufhörlich wachsenden Bürokratismus ein enormes Heer von kleinen Staatsrentnern und Staatsbeamten schuf, die mit ihrer ganzen Existenz an dem ruhigen Bestand der Republik hängen.
Aber auch seinen alten und verbissensten Feinden, dem Grundbesitz, dem kleinen wie noch mehr dem großen, hat das republikanische Füllhorn goldene Gaben in den Schoß geworfen.
War das Bauerntum in einem seiner Teile schon zur Zeit des Staatsstreichs des zweiten Napoleon fortgeschritten genug, durch eine Reihe von grausam unterdrückten Aufständen dem Monarchismus die Treue zu kündigen, so hat es nunmehr ausgiebige Gelegenheit bekommen, in noch höherem Maße seine Vorstellungen von der Republik zu revidieren. Eine ganze
[1] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.
[2] Im Januar und Oktober 1895 hatte die Aufdeckung einer großangelegten Fälschung der Marseiller Südbahngesellschaft in Frankreich Regierungskrisen ausgelöst. Die Gesellschaft hatte die zwischen ihr und dem Staat vertraglich festgelegten Konzessionen zum Bau von Eisenbahnlinien mißbraucht und riesige Gewinne erzielt.