Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 115

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Die Meinungsdifferenzen und Organisationsstreitigkeiten, die man ganz unberücksichtigt wissen will, erweisen sich somit gerade als das bestimmende, grundlegende Moment. Und der einzige Standpunkt, auf den sich die Partei eventuell stellen kann, ist folgerichtig nicht der formalistische der Gewerkschaftskommission, sondern der von dem Schiedsgericht tatsächlich eingenommene Standpunkt der sachlichen Prüfung des zu beurteilenden Streitfalls.

Sehen wir nun zu, welche Konsequenzen sich aus diesem Standpunkt ergeben.

Da der Meinungskampf in der Regel die Voraussetzung eines gewerkschaftlichen Vergehens sozialdemokratischer Arbeiter ist, so ist die Entscheidung über dieses Vergehen jedesmal mit der Stellungnahme der Partei zur strittigen Gewerkschaftsfrage selbst verbunden. Es hieße aber gegen die elementarsten Begriffe des Rechts und der Gerechtigkeit sündigen, wollte die Partei ihre Mitglieder als solche für eine verkehrte Stellungnahme in Gewerkschaftsfragen bestrafen, während sie die richtige, die maßgebende Regel des Verhaltens erst im Moment selbst der Rechtsprechung feststellt. Um es an einem konkreten Beispiel zu erläutern: Bevor nicht ein bindender Beschluß der Partei in bezug auf die Akkordarbeit in aller Form vorliegt, kann kein Parteimitglied als solches wegen seinem Verhalten zur genannten Frage, sosehr sie uns klar und einleuchtend erscheint, bestraft werden. Die Ansicht, die vom Schiedsgericht in bezug auf die Akkordarbeit niedergeschrieben worden, ist zunächst formell der Ausdruck lediglich der Privatmeinung der neun Genossen, die es bildeten; sie kann aber schon deshalb bei der Beurteilung des Streitfalls nicht als Grundlage dienen, weil sie post festum formuliert worden ist.

Sollte die Partei in bezug auf gewerkschaftliche Fragen über ihre Mitglieder zu Gericht sitzen, so würde ihr daraus die unabweisbare Pflicht erwachsen, im voraus zu jeder inneren Frage des Gewerkschaftslebens Stellung zu nehmen, und zwar in Form von bindenden Beschlüssen. Übernimmt also die Partei richterliche Pflichten in Gewerkschaftssachen, so ergeben sich für sie daraus auch gesetzgebende Pflichten. Sobald in gewerkschaftlichen Kreisen irgendeine Frage der Organisation, des Kampfes, eine Frage des Tarifs, der Lohnform etc. auftaucht, jedesmal müßte die Partei auch ihrerseits die Frage diskutieren und ihre Mitglieder im voraus auf eine bestimmte Regel verpflichten.

Es heißt nun, sich die Konsequenzen, die sich aus der Sachlage ergeben, in ihrer konkreten Wirkung zu vergegenwärtigen. Es gibt nur zwei Situationen, die dabei entstehen können.

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