Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 116

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Entweder wird das regelnde und richtende Eingreifen der Sozialdemokratie in die gewerkschaftliche Tätigkeit ihrer Mitglieder von den Gewerkschaften mit Gleichem, das heißt, mit regelnder und richtender Einmischung der Gewerkschaften in die politische Tätigkeit ihrer Mitglieder vergolten. Es geht offenbar nicht an, daß die Sozialdemokratie ihre Mitglieder wegen gewerkschaftlicher Mißgriffe ausstößt, während in gewerkschaftlichen Versammlungen zum Beispiel ruhig beschlossen werden darf, den 1. Mai nicht zu feiern, um damit der Sozialdemokratie keinen Gefallen zu erweisen. Eine Verpflichtung der Parteigenossen, sich gewerkschaftlich, und zwar nur in Zentralverbänden zu organisieren, würde logischerweise die Verpflichtung aller Gewerkschaftler entsprechen, bei den Wahlen nur sozialdemokratisch zu stimmen. Mit einem Wort, eine Konsequenz der Kontrolle der Sozialdemokratie über den wirtschaftlichen Kampf ihrer Mitglieder ist – das offene Bekenntnis der Gewerkschaften zur Sozialdemokratie.

Dieses auf völliger Gegenseitigkeit der beiden proletarischen Kampfesorganisationen beruhende Verhältnis entspricht theoretisch vollkommen ihrer inneren Einheit und ihrem sozialen Zusammenhang. In der Praxis würde es aber in letzter Linie zu einer Verschmelzung der politischen und wirtschaftlichen Organisation der Arbeiterklasse führen, bei welchem Durcheinander beide Kampfformen verlören und ihre geschichtlich entstandene und bedingte äußere Trennung und Arbeitsteilung rückgängig gemacht würde.

Oder aber die Einmischung der Sozialdemokratie in den wirtschaftlichen Kampf ihrer Mitglieder wird nach der Bernsteinschen Theorie (siehe Vorwärts, Nr. 196) ein einseitiges Verhältnis bleiben, das angeblich der überlegenen Stellung der politischen Partei entspricht. Dann haben wir tatsächlich eine Situation geschaffen, bei der die politische Organisation vor den Wagen der gewerkschaftlichen gespannt ist, bei der die Partei außer ihren politischen Aufgaben noch die hat, als Exekutive für die Gewerkschaften zu dienen, wo nicht die Gewerkschaften als Vorschule für die Sozialdemokratie, sondern die Sozialdemokratie als Prügelkammer für die Gewerkschaften funktioniert. Mit einem Wort, eine Situation, wo das natürliche Verhältnis zwischen der politischen und wirtschaftlichen Organisation des Proletariats als zwei selbständig nebeneinander bestehenden und einander ergänzenden Teilen der proletarischen Kampfarmee in ein widernatürliches Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnis verkehrt ist.[1]

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[1] Die Resolution Bernsteins, wie er sie im Hauptinhalt veröffentlicht, zeichnet sich schon, abgesehen von der Unrichtigkeit des Hauptstandpunktes, durch eine bedenkliche Verschwommenheit aus. „Wer der gewerkschaftlichen Organisation seines Berufes in ihren auf Regelung der Arbeitsbedingungen gerichteten Kämpfen schädigend in den Weg tritt oder sich eines ähnlichen, die Organisation in ihrer Leistungsfähigkeit ernsthaft schädigenden Verstoßes gegen die Disziplin schuldig macht, damit auch gegen die Grundsätze der Partei handelt und so lange nicht ihr Mitglied sein kann, als er in diesem ungehörigen Verhältnis gegen seine Berufsorganisation verharrt.“ [Vorwärts (Berlin), Nr. 196 vom 23. August 1901.]

Aber, um im Geiste Bernsteins zu fragen, was heißt „schädigend in den Weg treten“? Was heißt .die Leistungsfähigkeit der Organisation ernsthaft schädigen“? Und wenn ein Gewerkschafter gerade mitten im Kampfe von ärgsten Zweifeln über die sämtlichen Grundsätze der Gewerkschaften befallen wird und eine gründliche Revision des ganzen Organisationsgebäudes von der Dachrinne bis zur Kellerstiege vornehmen muß und seine zum Kampfe ausgerüsteten Genossen immer wieder und wieder aufhält, um sie über die ihn plagenden Zweifel zu unterhalten – ist das ein „schädigendes In-den-Weg-Treten“, ist das Schädigung der .,Leistungsfähigkeit der Organisation“? Wir fürchten, daß Bernstein als Mann der unerschrockenen Konsequenz auf Grund seines Antrags noch einmal in die Lage kommt, seinen eigenen, wenigstens zeitweiligen Ausschluß aus der Partei zu fordern. [Fußnote im Original]