Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 113

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in politischer Hinsicht beobachtet, sondern auch denjenigen, die von den Gewerkschaften selbst angewandt werden. Sowenig die Partei irgend jemand wegen bloßen Ungehorsams ohne weiteres als ehrlos ausstößt, ebensowenig halten notgedrungen die Gewerkschaften selbst den formalistischen, rigorosen Standpunkt ein, den man heute von der Sozialdemokratie fordert. Es genügt hierzu, sich ein wenig der Geschichte der Gewerkschaften zu erinnern.

Diese zeigt uns nämlich vor allem, daß bei weitgehenden Meinungsdifferenzen die ärgsten Disziplinlosigkeiten und namentlich auch der Streikbruch leider gar nicht zu den Seltenheiten gehören, und sodann, daß dementsprechend sogar der Streikbruch in den Kreisen der Gewerkschaften selbst je nach den begleitenden Umständen stets eine verschiedene Beurteilung gefunden hat und findet.

Erwähnen wir zur Illustration nur einen Fall, der sich unter ziemlich analogen Umständen wie der neuliche, und zwar gleichfalls in Hamburg vor zirka zehn Jahren abgespielt hat.

Es handelt sich um die Kämpfe der beiden Richtungen im Schoße der Hamburger Schiffszimmererorganisation: derjenigen von Grosz, das heißt der zentralen, welche von Anfang an die Vereinigung aller bei dem Schiffsbau tätigen Berufe anstrebte, und der lokalen Richtung der Holzschiffszimmerer, die sich im Jahre 1880 abgesondert hatten, um vor allem die Interessen ihrer Spezialbranche wahrzunehmen. Hier bildete der Streikbruch ein systematisch vom Zentralverband der Werftarbeiter angewandtes Mittel, um die Lokalorganisation zu brechen. So zum Beispiel bei dem Streik im Mai 1888, wo es sich um nichts anderes als um eine Lohnaufbesserung handelte. Kaum war der Streik von einer großen Anzahl lokalorganisierter Schiffszimmerer (über 800 Mann) proklamiert, als der Vorstand des Zentralverbandes eine Versammlung zusammenberief, um die anwesenden Schiffszimmerer zum Streikbruch zu bewegen, mit der Begründung, daß eine Lohnaufbesserung zuerst für die Werftarbeiter am Ostseestrande stattfinden müsse. Der Streik brach denn auch tatsächlich in kurzer Frist zusammen. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich im November 1889. Jetzt handelte es sich um die Einführung des Stundenlohnes an Stelle des Tagelohnes, was für die Schiffbauer einen bedeutenden Ausfall im Lohne für die Wintermonate bedeutete. Die Lokalorganisierten widersetzten sich der Neuerung und traten sämtlich (zirka 1 000 Mann) in den Streik, der außerordentlich günstige Aussichten hatte. Allein im Dezember gelang es dem Zentralverband wieder, durch eine Reihe von Versammlungen viele Schiffszimmerer zum Streikbruch und so zur Lahmlegung des

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