Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 101

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rand sei, weil er außerhalb der Kontrolle der Partei stehe, auch „außerhalb der Partei“. Infolge der Änderung dieser Worte erklärte die Resolution Briand nunmehr: Millerand ist und bleibt Mitglied der sozialistischen Partei, trotzdem er außerhalb ihrer Kontrolle steht.

Es lag und liegt selbstverständlich im Interesse der Jaurèsschen Richtung, aller Welt einzureden, die Resolution Briand sei gleichfalls eine Kundgebung gegen den sozialistischen Minister, die sich nur durch das Fehlen einer persönlichen Spitze von derjenigen de la Portes unterscheide. Aber diese Auslegung versagt sogar im eigenen Lager Jaurèsʼ ihre Wirkung, indem einer seiner wärmsten Anhänger, de Pressensé, das Elaborat Briands als eine „vage, schlappe, farblose, rückgratlose Resolution“ bezeichnet, die „absichtlich so abgefaßt zu sein scheint, um durch ihre Maschen den Handelsminister durchschlüpfen zu lassen“.

Die auf diese Weise „revidierte“ Resolution war offenbar die stärkste Herausforderung der Gegner Millerands. Man mutete ihnen zu, zu erklären, daß ein Sozialist auf eigene Faust einen beliebigen Regierungsposten übernehmen und somit seiner Partei in rücksichtslosester Weise den Rücken kehren darf, ohne dadurch jedoch im geringsten die Zugehörigkeit zur Partei einzubüßen. Ja, um Millerand der sozialistischen Bewegung zu erhalten, mutete man dem Kongreß zu, einen schreienden Unsinn auszusprechen. „Wie kann jemand zur Partei gehören, der außerhalb der Kontrolle der Partei steht?“ fragte immer wieder de la Porte. Und Jaurès–Briand wußte darauf nur verlegen zu stammeln, daß „abnorme Verhältnisse abnorme Resolutionen bedingen“. Die Antwort bezeichnet jedoch treffend den Kern der Sache: Durch die widersinnige Resolution sollte die politische Abnormität der sozialistischen Ministerschaft sanktioniert werden. In der Tat bedeutete die Resolution Jaurès–Briand eine bedeutende Verschlimmerung der Lage vom Standpunkt der Gegner Millerands aus. Bisher galt es immerhin nur als Privatmeinung, wenn auch stark vertreten in den sozialistischen Reihen, daß man sehr wohl Sozialist, Parteimitglied und nach eigenem Gutdünken Mitglied der bürgerlichen Zentralregierung zu gleicher Zeit sein könne. Nun sollte diese Auffassung durch einen Kongreßbeschluß zur offiziellen Parteiansicht erhoben und somit auf einem Umweg der Beschluß des französischen Kongresses von 1899 und die Resolution Kautsky annulliert werden. Bisher war die exzeptionelle Stellung Millerands durch ihn selbst, ohne Zutun der Partei geschaffen, nun sollte sie durch die Partei besiegelt werden, dadurch, daß man für Millerand extra eine neue Kategorie von Genossen schuf, die zwar „innerhalb der Partei“, aber „außerhalb der Kontrolle der Partei“

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