Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 99

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/99

allgemeiner Fragen der Organisation und der Taktik zu versuchen. Dasselbe bestätigt die offizielle Erklärung Gautiers im Namen der Sozialistisch-revolutionären Partei am ersten Verhandlungstag in Lyon. Und es ist sehr wichtig, hervorzuheben, daß es eine Reihe von Delegierten aus dem eigenen Lager Jaurèsʼ waren, die gleich zu Beginn des Kongresses eine Resolution, betreffend den Fall Millerand, eingebracht und somit die Linke wie die Rechte des Kongresses gleichermaßen vor einen Rubikon gestellt hatten. War die Ministerfrage einmal ohne ihr Zutun aufgerollt, dann mußten Vaillant und Genossen selbstverständlich Stellung dazu nehmen und aus dem Votum der Majorität des Kongresses die Konsequenzen ziehen.

Man muß der von de la Porte, Lagardelle, Briand und Genossen im Namen mehrerer Föderationen eingebrachten Resolution zugestehen, daß sie außerordentlich geschickt gefaßt war. Sie lautete:

„In Erwägung, daß die wesentliche Aufgabe des Kongresses darin besteht, die gegenwärtig der Vereinheitlichung der revolutionären Kräfte Frankreichs entgegenstehenden Hindernisse zu beseitigen; daß die Ministerschaft eines Abgeordneten, der einst der sozialistischen Kammerfraktion angehörte, eine die innerparteilichen Streitigkeiten begünstigende Zweideutigkeit schafft; daß die Frage der Beteiligung an der Regierung zwar für die Vergangenheit und die Zukunft, nicht aber für die Gegenwart gelöst wurde – erklärt der Kongreß ein für allemal, daß Millerand, der sich außerhalb der Partei gestellt bat, indem er auf seine persönliche Verantwortlichkeit und Initiative ins Ministerium eintrat, niemals den Sozialismus engagieren konnte, den er nicht vertritt. Der Kongreß erklärt ferner, daß die Haltung der Partei gegenüber dem gegenwärtigen Ministerium dieselbe sein muß wie jedem Bourgeoisministerium gegenüber.“

Hier ist einerseits weder eine Aufforderung an Millerand zur Amtsniederlegung noch sein formeller Ausschluß aus der Partei ausgesprochen. Es ist eine einfache Formulierung der Tatsache, daß Millerand sich selbst durch den Eintritt ins Ministerium außerhalb der Partei gestellt hat. Ohne sich also persönlich scharf gegen Millerand zu wenden, ihn zu verdammen oder zu maßregeln, was aussichtslose Auseinandersetzungen und Komplikationen heraufbeschworen hätte, lehnt die Resolution jede Verantwortlichkeit der Partei für die Handlungsweise Millerands ab.

Andererseits beschränkt sie sich ausschließlich auf den Fall Millerand, ohne prinzipiell die Beteiligung von Sozialisten an der Regierung durch ein allgemeines Verbot zu regeln, wodurch den Anhängern Jaurèsʼ die Verschanzung hinter die Resolution Kautsky[1] und das Vorschützen allgemeiner

Nächste Seite »



[1] Auf dem Internationalen Sozialistenkongreß vom 23. bis 27. September 1900 in Paris war nach längerer Diskussion zum Eintritt Alexandre-Etienne Millerands in die bürgerliche Regierung Waldeck-Rousseau eine von Karl Kautsky ausgearbeitete Resolution angenommen worden, in der dieses Verhalten nicht prinzipiell abgelehnt wurde. Dieser Resolution zufolge konnte die Beteiligung eines Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung von Fall zu Fall entschieden werden.