Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 594

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Genossen mit den Beschlüssen des quasi allgemeinen russischen Parteitags bekannt zu machen, wobei er das Ansinnen Kautskys entrüstet von sich weist, indem er nachweist, daß es sich gar nicht um zwei Fraktionen handle, sondern einerseits um die Partei im ganzen und auf der anderen Seite bloß um drei Querköpfe – Plechanow, Axelrod und Martow –, die Späne machen. Dies alles beweist „gr.“ unumstößlich – aus eben dem Bericht der einen Fraktion, die die Existenz der anderen einfach negiert. Da liegt ja aber der Hase im Pfeffer! Es handelte sich für Kautsky gerade darum, die deutschen Genossen davor zu warnen, daß sie die fraktionelle Darstellung der Lage ohne Vorbehalt für bare Münze nehmen. Damit wollte Kautsky sicher nicht sagen – und auch uns fällt es nicht ein, dies zu behaupten –, daß die Angaben der bei Birk in München erschienenen Broschüre etwa absichtliche oder bewußte Verdrehungen der Tatsachen wären. Auf die tatsächliche Einschätzung des Streits wollen wir überhaupt gar nicht eingehen. Aber es ist ja die bekannte in jedem heftigen Parteistreit aufkommende besondere psychologische Erscheinung, daß jede der streitenden Parteien die Dinge in ihrem subjektiven Lichte sieht und darstellt, wobei sie bei voller innerer Ehrlichkeit und im besten Glauben die größten objektiven Verkehrtheiten an den Tag legen kann. Es handelt sich denn auch nicht etwa darum, nur die Darstellungsweise und die Auffassung der einen Fraktion zu verpönen, sondern darum, keiner von ihnen bei der einseitigen Darstellung der tatsächlichen Kräfteverhältnisse Vorschub zu leisten, um die Erbitterung nicht zu schüren. Wer zwei Streitende aussöhnen will, kann offenbar nicht damit beginnen, vor allem zu erklären, der eine von den beiden existiere überhaupt nicht. Den russischen Fraktionen[1] aber zur Aussöhnung zu verhelfen ist zweifellos ein Ziel, dem die deutsche Partei in kräftigster Weise ihre Hand bieten muß. Und Genosse „gr.“ in der „Frankfurter Volksstimme“, der auch in diesem Punkt gegen Kautsky polemisiert, indem er eine eventuelle Vermittlung der deutschen Genossen für völlig überflüssig hält, wird vielleicht angenehm überrascht sein, zu erfahren, daß selbst leitende Genossen jener russischen Parteifraktion, die er für die einzige hält, diese eventuelle Vermittlung auch nicht für überflüssig halten, und zwar nach ihrem Kongreß.

Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden),

Nr. 142 vom 23. Juni 1905.

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[1] In der Quelle: Traditionen.