Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 576

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schritts, aber sie hatte aufgehört, als die eine absolute Wahrheit zu gelten; die denkende Vernunft und die moralische Gesetzlichkeit waren die neuen Herren einer neuen Welt. Solche Gedanken hat Schiller wohl nicht selbst gefunden (!!), aber in ewig klare Formen geprägt (!!) ...

An die Stelle eines tyrannischen Pfaffengottes tritt der selbstgewollte Gott (!) des ‚ewigen Willens‘, an die Stelle einer abergläubischen Vorstellung eine philosophische Abstraktion, die dem menschlichen Fortschritt zu Wahrheit und Freiheit nicht mehr hemmend im Wege steht. Das Gesetz aber, das Schiller gegen die Schmähungen des ‚Sklavensinnes‘ verteidigt, ist nicht das kirchliche noch das staatliche, sondern das moralische Gesetz, das in der Brust des Menschen lebt.

Gegenüber dem trügerischen Materialismus der Dogmenreligion (!!), die mit grob-sinnlichen Vorstellungen arbeitet, erhebt sich das revolutionäre System des Idealismus, das die menschliche Vernunft in den Mittelpunkt der Welt stellt. Das menschliche Denken erkennt die Begrenztheit seiner Erkenntnisfähigkeit ...“

Und so weiter und so weiter im gleichen Wahnwitz fortgefahren durch mehrere Spalten.

Es wäre wahrhaftig ein zu billiges Vergnügen, einen schwachen und verfehlten Artikel aus einem sozialdemokratischen Provinzblatt herauszugreifen, um daran herumzumäkeln. Unsere Provinzredakteure sind gewiß geplagte Wesen, und ihre Arbeitsbedingungen sind beschwerlich genug, um eine übermäßige Strenge im Urteil und ein übertriebenes Maß von Anforderungen speziell an literarische Artikel zu stellen. Aber abgesehen davon, daß es sich bei der Schiller-Feier doch gewissermaßen um einen „Extrafall“ handelte, bei dem auch eine Extraportion von Fleiß und Mühe seitens unserer Redakteure sehr wohl angebracht war, liegt das Empörende in der Leistung, von der wir hier ausreichende Proben gegeben haben, nicht in dem unzureichenden Inhalt, sondern in der so vielseitigen totalen Unwissenheit, die sich aber zugleich in prätentiösester Weise mit dem Schein der Bildung zu schmücken sucht. Dieses alberne Geschwätz über Homer, Kant, Materialismus, Idealismus, Feudalismus, Religionsphilosophie, Hans Sachs, Humanisten und Gott weiß was noch, dieses Umsichwerfen mit hohlen und verstiegenen Redensarten, von denen wohl auch die sieben Weisen von Griechenland mit vereinten Kräften nicht ein Sterbenswort verstehen würden, das ist viel schlimmer als einfaches geistiges Nichtkönnen, es ist – geistige Korruption. Und die Tatsache, daß gerade auf diesen klingenden Wortschwall so viele unserer Provinzredakteure hereingefallen sind, zeugt von einer ganz verfehlten geistigen Ge-

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