Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 574

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„Die glänzenden Wahrheiten antiker Weisheit waren längst veraltet, als das Volk des Mittelalters in starrer Unwissenheit dahinlebte, dem Bettler gleich, unter dessen elender Hütte ein köstlicher Kronschatz vergraben liegt (!!); er aber weiß es nicht und siecht kümmerlich dahin; ein undurchdringlicher Bodensatz von Schmutz und Unflat trennt ihn von Glanz und Glück. Dann kamen zur Zeit der Reformation die Humanisten, die den Kampf wider die Dunkelmänner aufnahmen und mühsam den Schutt hinwegzuräumen begannen. Jetzt drang ein Strahl des aufgehenden Lichts auch in die Werkstatt des schaffenden Volkes, und Hans Sachs, der Schuhmacher, jubelte der rotbrüstigen Morgenröte entgegen. (!!) Vorbei! Der Dreißigjährige Krieg, die Gegenreformation, der ersterbende Monarchismus zertrümmerten die Anfänge einer neuen menschlichen Kultur (!!), und wie im tiefsten Mittelalter decken dichte Schleier der Unwissenheit das weite Land. Seit dem Ende des furchtbarsten aller Kriege waren drei Menschengeschlechter gekommen und gegangen; das vierte aber, dem Friedrich Schiller entsproß, ward ein Geschlecht der Befreier, das erste in einer Reihe, die noch nicht abgeschlossen ist und deren Glieder nach der Zukunft weisen.

Aber auch hier noch wiederholt sich das ewige traurige Motiv der menschlichen Geschichte: der Frühtod der Wahrheit! (!!) Vor hundert Jahren starb Schiller; der ganze Geistesschatz seines Lebens wurzelt in einer Zeit, die uns fremd geworden ist – selbst seine Sprache ist nicht mehr ganz die unsere. Aber Friedrich Schillers Wahrheit ist in den fünfundvierzig Jahren seines Lebens und in den hundert Jahren seit seinem Tode keinen einzigen Tag das geistige Gemeineigentum der deutschen Nation gewesen: Noch ehe sie sich zur Vollkraft entwickelte, alterte sie und schwand stückweise dahin. (!!) Freilich, ein leuchtender Stern blieb. (!!)

Wenn die bürgerliche Gesellschaft die Schillerfeier als eine ‚Nationalfeier‘ zu begehen vorgibt – ja, wer ist die deutsche Nation? Es ist eine heuchlerische gleißende Lüge, wenn man schlechtweg sagt, daß Friedrich Schiller der Dichter des Volkes sei. Das deutsche Volk hat keinen Dichter! (!!) Man kann keinen Dichter haben, wenn man, nachdem einem in der Volksschule der Kopf mit Religion und Patriotismus vollgetrichtert worden ist, mit rauher Hand in den Lebenskampf hineingestoßen wird, vom frühen Morgen bis zum späten Abend an der Maschine steht und kärgliche Arbeitspausen mit Schlaf und der Sorge um morgen ausfüllt! (!!) ...

Zunächst das Einfachste: Schiller war ein Dichter, das heißt ein Mann, der aus Worten Kunstwerke schuf. (!) Der Genuß von Kunstwerken ver-

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