Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 530

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zutage in jede direkte revolutionäre Aktion der Arbeitermasse der wirtschaftliche Kampf mächtig mit hineinspielen, sich also naturgemäß in einer gewaltigen Streikbewegung äußern.

In diesem Sinne ist die gegenwärtige Revolution im Zarenreich eine neue Erscheinung, die für die künftigen revolutionären Kämpfe des europäischen Proletariats viel typischer sein dürfte als die früheren bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und Deutschland. Noch in keiner dieser letzteren hat der Massenausstand eine Rolle gespielt. Zwar äußerte sich die Revolution jedesmal durch das Darniederliegen des wirtschaftlichen Lebens, das sich immer naturgemäß aus der politischen und sozialen Umwälzung ergibt. Doch hatte dieses Darniederliegen stets bisher nur die negative Form der Desorganisation im gewöhnlichen Laufe der Dinge, es ergab sich als passives Resultat der revolutionären Zeit, war aber nicht selbst eine Äußerung, ein aktives Kampfmittel der Revolution. Das hängt mit zweierlei historischen Umständen zusammen. Erstens war weder zur Zeit der Märzrevolution noch viel weniger zur Zeit der Großen Französischen Revolution die Großindustrie so hoch entwickelt und so ausschlaggebend für das wirtschaftliche Leben der Gesellschaft wie gegenwärtig in Rußland. Und zweitens war – was mit dem ersteren aufs engste verknüpft ist – noch keine moderne Revolution so ausgesprochen und ausschließlich proletarisch wie die jetzige im Zarenreich. In den früheren Revolutionen gab den Ausschlag nicht bloß politisch, sondern auch ökonomisch das Kleinbürgertum, und es versteht sich von selbst, daß die direkte Aktion dieses letzteren nicht den Charakter eines Generalstreiks annehmen konnte. Die heutige. Revolution in Rußland ist nicht bloß ein rein politischer Kampf gegen die Alleinherrschaft, sondern – wie jede Arbeiterbewegung gegenwärtig es sein muß – zugleich auch ein mehr oder weniger klassenbewußter Kampf gegen die Kapitalsherrschaft, und die Zusammenfassung dieser beiden Momente findet ihren adäquaten Ausdruck in der gewaltigen Ge­neralstreikkrise, die das russische Riesenreich erschüttert.

Diese Krise ist deshalb eine glänzende Widerlegung auch der entgegengesetzten pedantischen Auffassung, die alle Aussichten auf einen revolutionären Generalstreik mit der trockenen Formel einfach von der Hand weisen zu können glaubt, daß wir, wenn wir erst einmal „so weit“ sind, einen wirklichen Generalstreik im ganzen Lande hervorrufen zu können, es gar nicht mehr nötig hätten, dies zu tun, da wir alsdann schon einfach die politische Macht ergreifen und der herrschenden Gesellschaftsordnung den Garaus machen würden. In Rußland fehlten sämtliche Bedingungen, die man nach dieser Auffassung als unentbehrlich für das Zustandekom-

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