Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 529

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ste Detail im Familienrat bespricht und Monate vor dem Termin die Koffer herunterzuholen und zu packen beginnt. Ein wirklicher Generalstreik, der ein ganzes Land, eine ganze Gegend aufrüttelt, läßt sich nicht in der Weise herbeiführen, daß mit der „Idee des Generalstreiks“ in abstrakter Form wie mit einem Panacée so lange in Versammlungen und Artikeln hausiert wird, gleichsam wie mit der „Idee“ des Konsumvereins, bis die Arbeiterklasse sich von der Vorzüglichkeit dieser „Idee“ überzeugt und im gegebenen Moment beschließt, einen Generalstreik zu beginnen. Der Massenausstand als große politische und soziale Klassenbewegung läßt sich ebensowenig auf Kommando „machen“ wie eine Revolution. Ein politischer Generalstreik, der ordnungsmäßig wie ein Schirm aufgespannt und dann wieder sauber zusammengeklappt und in die Ecke gestellt wird, wie seinerzeit in Schweden[1], ist nur eine Demonstration, die als eine Revue der organisierten und disziplinierten Kräfte des Proletariats zweifellos ihre große Bedeutung hat, aber nicht ein direktes Kampfesmittel darstellt. Hingegen ist in einer revolutionären Bewegung der Generalstreik nur eine Phase, ein Stadium des direkten Kampfes, und der Übergang vom Generalstreik zum Straßenkampf läßt sich ebensowenig vermeiden, wie sich die genaue Grenze zwischen dem einen und dem anderen ziehen läßt. Hier ergibt sich auch der Generalstreik nicht aus einem vorgefaßten Plan der Sozialdemokratie, nicht, weil er nach langen Disputationen als das „beste“ Mittel beschlossen worden ist. In keinem Lande ist über die Frage des Generalstreiks so wenig bis jetzt geschrieben und geredet worden wie in Rußland und Russisch-Polen. Er ergab sich hier, wie er sich heutzutage in wirklichen Revolutionsbewegungen überall ergeben muß, von selbst, aus der ökonomischen Lage der Arbeiterklasse. Die Masse der Proletarier ist in gewöhnlichen Zeiten an die Kette des Kapitals geschmiedet, in Fabriken, Werkstätten, Bergwerke gebannt und zugleich isoliert und zersplittert. Will die Arbeiterschaft irgendeine direkte politische Massenaktion vornehmen, so muß sie vor allem die Arbeit ruhen lassen und aus den Fabriken, Werkstätten und Gruben heraustreten. Der Generalstreik ist somit der erste Schritt und die natürliche Anfangsform jeder offenen Massenaktion und allerdings jeder modernen Straßenrevolution. Andererseits aber bleibt der wirtschaftliche und soziale Druck des Kapitals die große Grundlage und Grundtatsache des modernen öffentlichen Lebens, und deshalb muß heut-

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[1] In Schweden war auf Beschluß der Sozialdemokratie vom 15. bis 17. Mai 1902 ein politischer Massenstreik durchgeführt worden, um der Forderung nach einer Wahlrechtsreform Nachdruck zu verleihen. Der Streik, an dem sich etwa 116 000 Arbeiter beteiligten, wurde ohne Ergebnis abgebrochen, nachdem beide Kammern des Reichstags in einer Resolution die Regierung aufgefordert hatten, bis 1904 eine neue Wahlrechtsvorlage einzubringen.