Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 510

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riellen Zusammenstoß der Kräfte, nur den politischen Druck und die Empörung wahrnehmen.

Die wichtigste Frage, die uns als Sozialdemokraten, als die Partei des bewußten Eingreifens in den gesellschaftlichen Lebensprozeß naturgemäß am meisten interessieren muß, ist die:

War die Petersburger Revolution ein elementarer, blinder Ausbruch des Volkszornes, oder waren bewußte Leitung und planmäßige Aktion dabei im Spiel? Und wenn ja, welche Faktoren, Klassen, Parteien hier die ausschlaggebende Rolle spielten, welche war namentlich die Rolle der Sozialdemokratie bei dieser Bewegung?

Auf den ersten Blick wird man geneigt sein, die Petersburger Erhebung für eine ganz planlose, blinde Revolte zu halten, die einerseits unter der unmittelbaren Einwirkung der Kriegsereignisse[1] ganz unerwartet für alle hervorgebrochen ist, andrerseits, insofern Führung und bewußter Einfluß dabei in Frage kommen, diese in den Händen von Elementen lagen, die jedenfalls mit der Sozialdemokratie nichts zu tun haben. Ist es doch Tatsache, daß an der Spitze der Petersburger Erhebung ein unter Genehmigung der Gendarmerie gegründeter legaler Arbeiterverein stand, der mit der Absicht gegründet und geduldet wurde, der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben. Und obendrein war dieser Verein wie die ganze Erhebung am 22. Januar von einem Manne geführt, der, ein Gemisch von Prophet und „Demagoge“, das deutsche Publikum lebhaft an Tolstoische mystische Gestalten erinnert.

Trotzdem wäre ein Urteil, das sich nur auf diese äußeren Indizien stützen wollte, ein total verkehrtes. An revolutionäre Momente muß man, um sie richtig zu begreifen, von vornherein mit einem richtigen Maßstab herantreten, einem Maßstab, der nicht den friedlichen Zeiten, der Alltags- und Kleinarbeit und namentlich nicht dem Alltag der parlamentarischen Länder entnommen werden' darf. Eine wirkliche Revolution, eine große Massenerhebung ist nie, kann niemals ein künstliches Produkt bewußter, planmäßiger Leitung und Agitation werden. Man kann auf eine Revolution hinarbeiten, indem man ihre objektive Notwendigkeit den zu Trägern dieser Revolution bestimmten Klassen der Gesellschaft klarmacht. Man kann die allgemeine Richtung der Revolution vorausbestimmen, indem man möglichst die revolutionären Klassen über ihre Aufgaben, über die sozialen Bedingungen des geschichtlichen Moments aufklärt. Man kann den Ausbruch der Revolution beschleunigen, indem man durch eifrige und

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[1] Siehe S. 457, Fußnote 1.