Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 501

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ter heranzubilden, wie groß die Summe Aufklärungs- und Organisationsarbeit ist, die sie geleistet hat. Die jetzigen Ereignisse im russischen Reich lassen sich nur im Lichte der vorherigen Schicksale der Arbeiterbewegung, nur aus der Perspektive der ganzen 15- bis 20jährigen Geschichte der Sozialdemokratie beurteilen und verstehen.

Wenn die Frage gestellt wird, welchen Anteil die Sozialdemokratie an der jetzigen revolutionären Erhebung hat, so muß vor allem festgestellt werden, daß seit jeher und bis in die jüngsten Tage sich im eigentlichen Rußland um die Arbeiterklasse, um ihre kulturelle und materielle Hebung, um ihre politische Aufklärung überhaupt niemand kümmerte als die Sozialdemokratie. Die eigentliche industrielle und kommerzielle Bourgeoisie hat sich selbst als Klasse nicht einmal zu einem schwächlichen Liberalismus aufraffen können, und die liberalen adeligen Agrarier schmollten in ihren Winkeln, wobei sie sich politisch unentwegt nur auf dem schmalen Tugendpfade „zwischen Furcht und Hoffnung“ stets bewegten. Als politische Erzieher des industriellen Proletariats kommen sie gar nicht in Betracht. Insofern aber die radikale und demokratische Intelligenz sich um das russische „Volk“ kümmerte, und das tat sie besonders in den 70er und 80er Jahren mit Eifer, richteten sich ihre Tätigkeit wie ihre Sympathie ausschließlich auf das Landvolk, auf die Bauernschaft. Als Ärzte in den Dörfern, als Statistiker in den Landschaften (Semstwos), als Dorflehrer, als Gutsherren suchten die russischen Liberalen und Demokraten kulturell zu wirken. Der Bauer, die „Mutter Erde“ – das waren bis in die 90er Jahre hinein für die Intelligenz die Angelpunkte der Hebung Rußlands und seiner politischen Zukunft. Der städtische Industrieproletarier galt hingegen mitsamt dem modernen Kapitalismus als etwas dem russischen Volke Wesensfremdes, als das Zersetzungselement, als eine wunde Stelle des Volksdaseins. Noch in der ersten Hälfte der 90er Jahre führte das geistige Haupt des oppositionellen Rußlands, der verstorbene, einst glänzende Schriftsteller Michailowski, ganze literarische Feldzüge gegen die marxistische Lehre von der sozialen Bedeutung des Industrieproletariats, indem er z. B. an der Hand der städtischen Gassenhauer und dergleichen nachwies, daß das Fabrikproletariat direkt zur moralischen und intellektuellen Degradation des russischen „Volkes“ führe.

Und in denselben Bahnen bewegten sich auch bis zu den 90er Jahren die sozialistischen Gedankengänge in Rußland. Die terroristische Bewegung der alten „Narodnaja Wolja“, die sich in ihrer Theorie vorzugsweise auf die Fiktion der bäuerlichen kommunistischen Landgemeinde und ihrer sozialistischen Mission stützte, wirkte noch bis Ende der 80er Jahre in

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