Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 492

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/492

zen. Die Sache der Freiheit ist jetzt schon in Rußland gewonnen, die Sache der internationalen Reaktion hat jetzt schon, am 22. Januar, auf den Straßen Petersburgs ihr blutiges Jena[1]. erlebt. Denn an diesem Tage hat zum erstenmal das russische Proletariat als Klasse die politische Bühne betreten, zum erstenmal ist endlich auf dem Kampfplatz diejenige Macht erschienen, die allein geschichtlich berufen und imstande ist, den Zarismus in den Staub zu werfen und in Rußland wie überall das Banner der Zivilisation aufzupflanzen.

Der Kleinkrieg gegen die russische Alleinherrschaft dauert schon fast ein Jahrhundert. Bereits 1825 gab es in Petersburg eine Revolte[2], getragen von der Jugend der höchsten Aristokratie, von Offizieren, die an den Ketten des Despotismus zu rütteln versuchten. Die Denkmäler dieser fehlgeschlagenen, grausam niedergeworfenen Erhebung sind heute noch zu finden in den Schneefeldern Sibiriens, wo Dutzende edelster Opfer auf ewig begraben wurden. Geheime Verschwörungsgesellschaften und Anschläge erneuerten sich in den fünfziger Jahren, und wieder triumphierte bald die „Ordnung“ und Knute über die Schar der verzweifelten Kämpf er. In den siebziger Jahren bildete sich eine starke Partei der revolutionären Intelligenz, die, auf die Bauernmasse gestützt, vermittelst systematischer terroristischer Anschläge auf die Zaren einen politischen Umsturz herbeiführen wollte. Es stellte sich jedoch bald heraus, daß die damalige Bauernmasse ein träges, ganz ungeeignetes Element für revolutionäre Bewegungen war. Ebenso erwies sich die Beseitigung der Zaren als eine ganz ohnmächtige Waffe, um den Zarismus als Regierungssystem zu beseitigen.

Nach dem Niedergang der terroristischen Bewegung in Rußland in den achtziger Jahren bemächtigte sich der russischen Gesellschaft, wie der Freunde der Freiheit in Westeuropa, für eine Weile eine, tiefe Niedergeschlagenheit. Der Eisblock des Absolutismus schien unerschütterlich, die sozialen Zustände in Rußland schienen hoffnungslose zu sein. Und doch setzte gerade in diesem Augenblick in Rußland diejenige Bewegung ein, deren Ergebnis der 22. Januar dieses Jahres werden sollte – die sozialdemokratische.

Es war ein ganz verzweifelter Gedanke des russischen Zarismus, nach der schweren Niederlage im Krimkrieg[3], seit den sechziger Jahren den

Nächste Seite »



[1] Siehe Bd. 1/1, S. 618, Fußnote 1.

[2] Siehe S. 487, Fußnote 2.

[3] Im Krieg von 1853 bis 1856 gegen die Koalition zwischen England, Frankreich, der Türkei und Sardinien um die Vorherrschaft und den Einfluß im Nahen Osten hatte das zaristische Rußland eine schwere Niederlage erlitten. Es mußte das Gebiet der Donaumündung abtreten und durfte auf dem Schwarzen Meer keine Kriegsflotte unterhalten.