Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 484

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Und dann, als die kulturelle Existenz des russischen Proletariats für die „Gesellschaft“ erst aus den denkwürdigen Veröffentlichungen über den Zulauf der Arbeiter zu den öffentlichen Lesehallen entdeckt wurde, gleichsam wie die Existenz neuer wilder Stämme in den amerikanischen Urwäldern.

Und dann später, als trotz der Existenz der Arbeiterklasse, trotz der großen Streiks nur an die politische Wirksamkeit des studentischen Terrors geglaubt wurde.

Und erst vorgestern, als trotz der enormen sozialistischen Bewegung Rußlands im Ausland mit echt doktrinärer Schablonenhaftigkeit vor allem und am meisten im Grunde genommen an die liberale Bewegung des Zarenreichs geglaubt wurde.

Und gestern, als angesichts des Krieges[1] eigentlich wiederum nicht auf die Klassenaktion der russischen Proletarier, sondern auf die Aktion der Japaner alle Hoffnungen gesetzt wurden.

Und im letzten Augenblick, als wieder und immer wieder nicht an die selbständige revolutionäre Politik der sozialdemokratischen Arbeiterklasse, sondern zum mindesten nur an eine Vermischung aller „revolutionären“ und „oppositionellen“ Parteien in Rußland, an eine politische Pastete geglaubt wurde, zu der die proletarische Politik mit allen anderen „aus größeren Gesichtspunkten“ und „angesichts des großen Momentes“ schleunigst zusammengebacken werden müßte.

Der 22. Januar hat das Wort zum Fleische werden lassen und das russische Proletariat in selbständiger politischer Revolution vor aller Welt gezeigt. Es ist der Marxscbe Geist, der auf den Straßen Petersburgs um die russische Freiheit die erste große Schlacht geschlagen hat, und er ist es, der mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes über kurz oder lang den Sieg erfechten wird.

Die Neue Zeit (Stuttgart),

23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 572–577.

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[1] Siehe S. 457, Fußnote 1.