Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 424

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das die Sozialdemokratie nur das politische Bewußtsein hineinträgt. Unter normalen Bedingungen, das heißt dort, wo die entfaltete politische Klassenherrschaft der Bourgeoisie der sozialdemokratischen Bewegung vorausgeht, wird die erste politische Zusammenschweißung der Arbeiter in hohem Maße schon durch die Bourgeoisie besorgt. „Auf dieser Stufe“, sagt das Kommunistische Manifest, ist „massenhaftes Zusammenhalten der Arbeiter ... noch nicht die Folge ihrer eigenen Vereinigung, sondern die Folge der Vereinigung der Bourgeoisie.“[1] In Rußland ist der Sozialdemokratie die Aufgabe zugefallen, einen Abschnitt des historischen Prozesses durch bewußtes Eingreifen zu ersetzen und das Proletariat direkt aus der politischen Atomisierung, die die Grundlage des absoluten Regimes bildet, zur höchsten Form der Organisation – als zielbewußt kämpfende Klasse zu führen. Die Organisationsfrage ist somit für die russische Sozialdemokratie besonders schwierig, nicht bloß, weil sie sie ohne alle formalen Handhaben der bürgerlichen Demokratie, sondern vor allem, weil sie sie gewissermaßen wie der liebe Herrgott „aus nichts“, in der leeren Luft, ohne das politische Rohmaterial, das sonst von der bürgerlichen Gesellschaft vorbereitet wird, erschaffen soll.

Das Problem, an dem die russische Sozialdemokratie seit einigen Jahren arbeitet, ist eben der Übergang vom Typus der zersplitterten, ganz unabhängigen Zirkel- und Lokalorganisation, die der vorbereitenden, vorwiegend propagandistischen Phase der Bewegung entsprach, zur Organisation, wie sie für eine einheitliche politische Aktion der Masse im ganzen Staate erforderlich ist. Da aber der hervorstechendste Zug der unleidlich gewordenen und politisch überholten alten Organisationsformen die Zersplitterung und die völlige Autonomie, die Selbstherrlichkeit der Lokalorganisationen war, so wurde naturgemäß die Losung der neuen Phase, des vorbereiteten großen Organisationswerkes: Zentralismus. Die Betonung des zentralistischen Gedankens war das Leitmotiv der „Iskra“ in ihrer dreijährigen glänzenden Kampagne zur Vorbereitung des letzten, tatsächlich konstituierenden Parteitags[2], derselbe Gedanke beherrschte die ganze junge Garde der Sozialdemokratie in Rußland. Bald sollte sich jedoch auf dem Parteitag und noch mehr nach dem Parteitag zeigen, daß der Zentralismus ein Schlagwort ist, das den historischen Inhalt, die Eigentümlichkeiten des sozialdemokratischen Organisationstypus

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[1] Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 4, S. 470.

[2] Vom 30. Juli bis 23. August 1903 fand in Brüssel und London der II. Parteitag der SDAPR statt. Die Anhänger Lenins, die bei den Wahlen der leitenden Organe der Partei die Mehrheit erhielten, wurden seitdem Bolschewiki, ihre Gegner Menschewiki genannt.