Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 380

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/380

dem Wege der Entwicklung zum Sozialismus liegt, ob sie sich in unsre allgemeinen Bestrebungen zur Emanzipation der Arbeiterklasse einfügt. Es kann nicht Aufgabe des Proletariats sein, neue Klassenstaaten zu schaffen, und wenn die Londoner[1] Resolution von einem Selbstbestimmungsrecht aller unterdrückten Nationen spricht, so hatte sie im Auge das Recht der Selbstbestimmung in der sozialistischen Gesellschaft, nicht aber die Schaffung eines neuen Klassenstaates auf kapitalistischem Boden. (Zustimmung.) Es könnte scheinen, als handelte es sich hier nur um eine Doktorfrage; in Wirklichkeit aber handelt es sich um etwas sehr Reales, um ein Moment, das uns in der Agitation stets störend entgegentritt. Auch die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands hat sich in ihrem Bericht an den Stuttgarter Kongreß in demselben Sinne ausgesprochen. Da haben Sie den Beweis dafür. (Die Rednerin verliest die Äußerung der Generalkommission.[2]) (Singer gibt durch ein Glockenzeichen zu verstehen, daß die Redezeit gleich abgelaufen ist.) O Gott! (Große Heiterkeit.) Ich bitte die Versammlung zu fragen, ob ich noch reden darf. (Ledebour ruft: „Ich beantrage, die Redezeit für die Genossin zu verdoppeln.“ – Heiterkeit.) Das ist ein Beweis dafür, daß auch die Gewerkschaften mit denselben Schwierigkeiten bezüglich der polnischen Sonderorganisation zu kämpfen haben.

Und die gleichen Streitigkeiten finden sich in Rußland, dort befindet sich diese Richtung im Gegensatz zu den russischen Genossen, zu den jüdischen Sozialisten. Sie sehen, wenn das nationale Sozialisten sind, dann sind es internationale Stänker. (Große Heiterkeit.) Ledebour verbreitet sich hier über die Polenfrage, und dabei versteht er kein Wort polnisch, er

Nächste Seite »



[1] Der Internationale Sozialistische Arbeiter- und Gewerkschaftskongreß in London fand vom 27. Juli bis 1. August 1896 statt.

[2] Im Bericht an den vierten Gewerkschaftskongreß heißt es: „Weder den Gewerkschaften noch der Parteileitung ist es jemals eingefallen, Germanisierungsversuche zu machen. Stets sind sie dafür eingetreten, daß jeder Mensch ein Recht auf seine Muttersprache hat, daß die Volkstümlichkeiten berücksichtigt und anerkannt werden müssen. Die Unterdrückten aller Länder haben in der modernen Arbeiterbewegung einen energischen Anwalt gefunden. Diese Arbeiterbewegung will aber nicht neue Staatsformationen schaffen, sondern ohne Rücksicht auf durch Gewalt künstlich geschaffene Landesgrenzen dem gesamten Proletariat eine höhere Lebenshaltung und endgültige Befreiung vom Joche des Kapitalismus bringen. Sie sieht nicht darnach, welcher Nation der ausbeutende Kapitalist oder der ausgebeutete Proletarier angehört, sondern bekämpft den ersteren und sucht den letzteren zu schützen, gleichviel, ob sie russischer oder japanischer Nationalität sind. Es ist also ein erbärmliches Unternehmen der polnischen Parteileitung, wenn sie einen Gegensatz zwischen dem polnisch und dem deutsch sprechenden Teil der Kämpfer für die Befreiung des Proletariats zu schaffen sucht und die Agitatoren der deutschen Arbeiterbewegung verdächtigt.“ (Protokoll der Verhandlungen des vierten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 16. bis 21. Juni 1902, Hamburg o. J., S. 13.