Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 379

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Schriften, mit denen man an den Parteitag kommt. Gewöhnlich ist von diesem Friedensbedürfnis sehr wenig zu spüren, und das haben wir, die wir in jenen Gegenden zu tun haben, auf das schwerste empfunden. Nach dem Offenen Briefe und den Ausführungen der Verteidiger der polnischen Sonderorganisation mußten Sie den Eindruck gewinnen, als ob die polnische unterdrückte Nation von der deutschen Sozialdemokratie unterdrückt würde. Wenn dieser Verdacht berechtigt wäre, so würde ich als Polin, nicht nur als Sozialdemokratin, trotz aller Liebe, die mich in letzter Zeit mit dem deutschen Parteivorstand verbindet (Heiterkeit.), die erste sein, die die Fahne der Rebellion gegen den deutschen Parteivorstand erheben würde. (Erneute Heiterkeit.) Aber wer sich ruhig und objektiv über die Vorgänge informiert hat, der muß zu der Überzeugung kommen, daß niemand die Rechte, die Freiheit, die Selbstbestimmung und die kulturelle Entwicklungsmöglichkeit des polnischen Volkes verteidigt wie die Sozialdemokratie. Wenn Ledebour Gelegenheit gehabt hat, in den letzten Jahren im Reichstag so schöne Reden zur Verteidigung des unterdrückten polnischen Volkes zu halten, so hat er damit nur einen Auftrag des Mainzer Parteitages ausgeführt. (Ledebour: „Das habe ich gar nicht gewußt!“ – Heiterkeit.) Nun, dann war es unbewußt. (Große Heiterkeit.) Es handelte sich aber dabei um einen Antrag, der nach einer Begründung von mir angenommen wurde.[1] Ich würde die Sozialdemokratie beleidigen, wollte ich des längeren anführen, daß nur sie in ganz Deutschland der wirkliche Hort, die Verteidigung und der Schutz des unterdrückten polnischen Volkes ist. Aber nicht darum handelt es sich, ob die Sozialdemokratie die unterdrückten Polen schützen soll, denn das ist selbstverständlich, sondern darum, ob die polnischen Sozialisten zusammen mit den deutschen auf gemeinsamem Boden als eine Klassenpartei arbeiten sollen oder ob in der Agitation das nationale Moment in den Vordergrund gestellt werden soll. Es versteht sich für uns von selbst, daß jedes unterdrückte Volk das heilige Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit hat, aber wie viele schöne Rechte haben wir nicht! Jeder von uns hat z. B. auch das Recht zu fliegen (Auer: „Hinausfliegen!“), aber ich kenne keinen Genossen, der davon Gebrauch macht, ausgenommen etwa, wenn man, wie z. B. Ledebour, sich auf ein Gebiet begibt, wovon man keine Ahnung hat und wo man in der Luft schwebt. (Heiterkeit.) Es kommt nicht darauf an, ob wir das Recht, sondern ob wir die Möglichkeit haben, etwas zu erringen, und gerade wir, die wir auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung stehen, müssen uns vor allem die Frage stellen, ob diese oder jene Aufgabe auf

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[1] Siehe Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 17. bis 21. September 1900 in Mainz. In: GW, Bd. 1/1, S 797 f.