Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 364

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wie uns die beiden Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus gelassen haben.

Ist es, weil das Marxsche System die selbständigen Regungen des Geistes in zu feste Rahmen geschlagen hat? Zweifellos läßt sich ein gewisser drückender Einfluß Marxens auf die theoretische Bewegungsfreiheit mancher seiner Schüler nicht leugnen. Haben doch schon Marx und Engels die Verantwortlichkeit für Geistesoffenbarungen eines jeden „Marxisten“ abgelehnt, und die peinliche Angst, um beim Denken ja „auf dem Boden des Marxismus“ zu bleiben, mag in einzelnen Fällen für die Gedankenarbeit ebenso verhängnisvoll gewesen sein wie das andre Extrem – die peinliche Bemühung, gerade durch die vollkommene Abstreifung der Marxschen Denkweise um jeden Preis die „Selbständigkeit des eignen Denkens“ zu beweisen.

Allein, von einem mehr oder weniger ausgearbeiteten Lehrgebäude kann bei Marx nur auf ökonomischem Gebiete die Rede sein. Dagegen, was das Wertvollste seiner Lehre betrifft: die materialistisch-dialektische Geschichtsauffassung, so stellt sie nur eine Forschungsmethode dar, ein paar leitende geniale Gedanken, die den Ausblick in eine ganz neue Welt gestatten, die unendliche Perspektiven der selbständigen Betätigung eröffnen, die den Geist zu kühnsten Ausflügen in unerforschte Gebiete beflügeln.

Und doch – auch auf diesem Gebiete liegt, ausgenommen einige wenige Leistungen, das Erbe Marxens brach, unbenutzt liegt die herrliche Waffe, und die Theorie selbst des geschichtlichen Materialismus ist heute genauso unausgearbeitet und schematisch, wie sie aus der Hand ihrer Schöpfer gekommen ist.

An der Starrheit und Fertigkeit des Marxschen Lehrgebäudes liegt es also nicht, wenn es nicht weiter ausgebaut wird.

Häufig wird über den Mangel an intellektuellen Kräften in unsrer Bewegung geklagt, die das Werk der Weiterführung der Theorien von Marx aufnehmen könnten. Ein solcher Mangel ist tatsächlich seit langem eingetreten, er ist aber selbst eine Erscheinung, die der Erklärung bedarf, und kann jene andre Frage nicht erklären. Denn jede Zeit formt selbst ihr Menschenmaterial, und wo ein wirkliches Bedürfnis der Zeit nach theoretischer Arbeit vorliegt, da werden durch dieses selbst die Kräfte zu seiner Befriedigung geschaffen.

Aber haben wir ein Bedürfnis nach theoretischer Weiterführung der Lehre über Marx hinaus?

In einem Artikel über die Kontroverse zwischen der Marxschen und

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