Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 322

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Ein Blick auf den angeführten Aufruf genügt, um sich zu überzeugen, daß wir hier ein Dokument von erstrangiger Bedeutung für die Geschichte der sozialistischen Tradition in Polen vor uns haben. Man kann nämlich nicht umhin zuzugeben, daß der Aufruf vom Dezember 1881 ganz einfach die Formulierung der Grundsätze und des politischen Programms darstellt, die auf das präziseste sozialdemokratisch, auf das vollkommenste mit dem Standpunkt der heutigen Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens[1] identisch ist.

Nicht nur die allgemeinen Grundsätze: die Unmöglichkeit eines gemeinsamen Programms und einer gemeinsamen Organisation bei den polnischen Sozialisten in den drei Teilungsgebieten, dagegen die Notwendigkeit eines gemeinsamen Programms und einer gemeinsamen Organisation mit den Sozialisten der Staaten der Besatzungsmächte; nicht nur die sich hieraus ergebenden negativen Schlußfolgerungen: die konsequente Ablehnung des Programms der Unabhängigkeit Polens, sind hier wieder mit vollkommenster Nachdrücklichkeit ausgesprochen. Mehr noch, das positive Programm der Sozialdemokratie für das russische Teilungsgebiet: die Eroberung politischer Freiheiten, also konstitutioneller Formen innerhalb Rußlands, formuliert der Aufruf des „Przedświt“ und der ehemaligen Gruppe „Równość“ in der Geschichte des polnischen Sozialismus zum erstenmal.

Nicht genug damit. Der aufmerksame Leser wird bemerken, daß der Aufruf Waryńskis und seiner Genossen gewissermaßen als selbstverständlich annimmt, daß die russischen Sozialisten für sich dasselbe Programm aufstellen. Ja indem der Aufruf sogar ausdrücklich die Tätigkeit der „Narodnaja Wolja“ erwähnt, spricht er ohne Zögern von dem „terroristischen Kampf um politische Freiheiten in Rußland“ und sieht in diesem Terrorismus der russischen Partei eine einfache Taktik im Kampf um den Sturz des Zarismus und die Eroberung demokratischer Freiheiten im europäischen Sinne.

Überdies versucht der Aufruf, diese Taktik nach Möglichkeit auf den sozialdemokratischen Boden zu stellen, indem er erklärt, daß der Terrorismus der „Narodnaja Wolja“ nur in dem Falle politische Bedeutung erlan-

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[1] Im August 1900 hatte in der Nähe von Warschau ein Parteitag der Sozialdemokratischen Partei des Königreichs Polen und der Vertreter des linken Flügels der polnischen Sozialdemokratie Litauens stattgefunden, auf dem eine gemeinsame Organisation geschaffen wurde. Die SDKPiL war eine revolutionäre marxistische Arbeiterpartei, die in der polnischen Arbeiterbewegung nationalistische Tendenzen der PPS bekämpfte. Ihre führenden Vertreter waren Feliks Dzierżyński, Leo Jogiches, Rosa Luxemburg und Julian Marchlewski.