Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 288

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fellos, daß unsere Fraktion es für reinen Formalismus und kleinliche Pedanterie hält, darin zu unterscheiden, ob wir im Reichstage das Gesetz des achtstündigen Arbeitstages fordern oder den zehnstündigen Arbeitstag mit späterer Aussicht auf Übergang zum Achtstundengesetz. Tatsächlich indes handelt es sich hier nicht um Formalitäten, sondern um das Wesen unserer Taktik in diesem Falle.

Es ist klar, daß man, wenn man den Achtstundentag will, nicht den Zehnstundentag fordern muß, sondern umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn überhaupt Aussicht vorliegt, daß wir die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit auf zehn Stunden erreichen können, so nur in dem Falle, daß wir unausgesetzt unsere Forderung des Achtstundentages mit allem Nachdruck vertreten. Die ganze bisherige Erfahrung hat gezeigt, daß nur, indem wir von der bürgerlichen Gesellschaft alles forderten, was sie zu gewähren imstande ist, es uns hier und da gelungen ist, ein Weniges zu erreichen. Und es ist erst ein neuer Grundsatz der sogenannten „praktischen Politik“ in unserer Partei, daß man umgekehrt hofft, durch Bescheidenheit und Mäßigung im Fordern Großartiges erreichen zu können.

Wir betrachten deshalb das Bebelsche Argument, auf das sich Edm. Fischer berufen hat, als total falsch, das Argument nämlich, welches lautet: Wir wollen den Zehnstundentag fordern, damit wir die bürgerlichen Parteien zu zeigen zwingen, ob es ihnen mit dieser oft versprochenen Reform Ernst sei. So populär und ansprechend diese taktische Wendung erscheinen mag, so ist sie doch durchaus verfehlt. Es gibt doch wahrhaftig keinen Menschen, der je geglaubt hätte, daß es unsere zu weit gehenden Forderungen waren, die es den bürgerlichen Parteien unmöglich machten, ihren guten Willen zu zeigen. Im Gegenteil, alle Welt weiß sehr wohl, daß, wenn die bürgerliche Mehrheit des Reichstags auch nur die zehnstündige Arbeitszeit zum Gesetz einmal machen wollte, sie dabei unserer Unterstützung ganz sicher sein dürfte. Ja gerade dadurch, daß wir das Achtstundengesetz fordern, zwingen wir die Bourgeoisie, wenigstens ihren guten Willen mit einer viel bescheideneren Reform zu zeigen. Hier wie sonst ist es nur unser Druck, unser Auf-die-Spitze-Treiben der bürgerlichen Reformen, die überhaupt das Quentchen „guten Willen“ aus der Bourgeoisie herauspressen. Und da liegt es auf der Hand, wie unlogisch die Berechnung ist, dadurch den bürgerlichen Parteien ihren sogenannten guten Willen zu entlocken, daß man den Druck auf sie aufgibt.

Freilich hat unsere Fraktion nicht etwa formell auf die Forderung der achtstündigen Arbeitszeit verzichtet. Sie hat sie aber auch nur formell beibehalten. Denn es liegt auf der Hand, daß, wenn schon die Sozialdemo-

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