Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 254

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/254

jeder – nach uraltem deutschem Gelehrtenbrauch – willkürlich einen eigenen Inhalt gibt; allein, für die Praxis der Bewegung ist solch einseitiges Philosophieren nicht selten eine bemerkenswerte Fehlerquelle und kann eine nicht unbedenkliche Verwirrung über die Ziele und den Geist der gewerkschaftlichen Bewegung zum tatsächlichen Ergebnis haben.

Die Diskussion über die Zusammenhänge zwischen Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie ist ausgegangen von einem Aufsatz des bürgerlichen Sozialpolitikers Dr. Freund in der „Sozialen Praxis“[1], der sofort von der Gewerkschaftspresse aufgegriffen und in Zusammenhang mit dem älteren „Neutralitäts“problem der Gewerkschaften erörtert wurde. Wir können nicht bekennen, daß wir von dem Verlauf der Diskussion besonders befriedigt gewesen wären, und sind es auch nicht von dem Artikel des Genossen Heine im neuesten Heft der „Sozialistischen Monatshefte“[2], wo diese Frage gewissermaßen im Einigungsverfahren friedlich geschlichtet und zu einem Vergleichsabschluß gebracht werden soll. Wir vermissen in der ganzen Diskussion vor allem eine präzise Abgrenzung der Sozialdemokratie gegen die Gewerkschaftsbewegung und eine scharf herausgearbeitete Darstellung des Grundcharakters dieser Partei.

Daß die Arbeiterbewegung nicht notwendig sozialistisch verläuft, lehrt schon ein summarischer Rundblick auf die Bewegung in anderen Ländern. In England sind Sozialismus und Arbeiterbewegung bis zum heutigen Tage nicht recht zusammengekommen; der englische Sozialismus hat seine Stätte vorwiegend in den Kreisen bürgerlicher Ideologen, und die Gewerkschaftsbewegung in England ist nun einmal nicht sozialistisch. In Frankreich ist der Gegensatz von Sozialismus und Arbeiterbewegung in die Arbeiterschaft selbst hineingedrungen, und das ist die geschichtliche Quelle der tiefen Zerklüftungen innerhalb der französischen Arbeiterbewegung geworden. Das klassische Land der Zusammenschweißung von Arbeiterbewegung und Sozialismus ist Deutschland, wo der Sozialismus in der Sozialdemokratie seine Verkörperung, seine Wirklichkeit erlebt hat.

Darum ist aber die Sozialdemokratie noch lange nicht ohne weiteres eine einseitige Arbeiterpartei. Wo man die Sozialdemokratie in ihren positiven Lebensäußerungen, in ihrer Erscheinung betrachtet, deckt sie sich keineswegs ohne weiteres mit dem Begriffe einer bloßen Arbeiterpartei. Die sozialdemokratische Wählermasse von 21/4 Millionen Stimmen um-

Nächste Seite »



[1] Richard Freund: Sozialdemokratie und Arbeiterschaft. In: Soziale Praxis (Leipzig) vom 20. Februar 1902.

[2] Wolfgang Heine: Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie. In: Sozialistische Monatshefte (Berlin). 6. Jg. 1902, Nr. 6, S. 424–432.