Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 250

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ein Häuflein zitternder geretteter Flüchtlinge – der alte Riese kann beruhigt brummen und keuchen, er hat seine Macht gezeigt, er hat sich für die Geringschätzung seiner Urgewalt furchtbar gerächt.

Und nun erschien auf Martinique auf den Trümmern der vernichteten Stadt ein neuer, unbekannter, nie gesehener Gast – der Mensch. Nicht Herren und Knechte, nicht Schwarze und Weiße, nicht Reiche und Arme, nicht Plantagenbesitzer und Lohnsklaven – Menschen sind auf der kleinen zermalmten Insel erschienen, Menschen, die nur den Schmerz fühlen und das Unglück sehen, die nur retten und helfen wollen. Der alte Mont Pelée hat Wunder getan! Vergessen die Tage von Faschoda[1], vergessen der Streit um Kuba[2], vergessen la Révanche – Franzosen und Engländer, der Zar und der Senat von Washington, Deutschland und Holland spenden Geld, schicken Telegramme, bieten hilfreiche Hand. Eine Völkerverbrüderung wider die haßerfüllte Natur, eine Auferstehung der Menschlichkeit auf den Trümmern der Menschenkultur. Teuer war der Preis, um den sie sich an ihr Menschentum erinnern ließen, doch der donnernde Mont Pelée hatte eine vernehmliche Stimme.

Vierzigtausend Leichen beweint Frankreich auf der kleinen Insel, und die ganze Welt eilt herbei, die Tränen der trauernden Mutter Republik zu trocknen. Aber wie war es damals, vor Jahrhunderten, als Frankreich um die Kleinen und Großen Antillen Ströme von Blut vergoß? In Afrika am östlichen Ufer liegt im Meere eine vulkanische Insel – Madagaskar; dort haben wir die tiefbekümmerte, ihre verlorenen Kinder beweinende Republik vor fünfzehn Jahren gesehen, wie sie mit Eisen und Schwert die widerspenstigen Eingeborenen unter ihr Joch beugte. Kein Vulkan öffnete da seinen Krater, die Schlünde der französischen Kanonen spien Tod und Vernichtung, französisches Artilleriefeuer fegte Tausende blühender Menschenleben vom Antlitz der Erde, bis das freie Volk platt am Boden lag, bis die braune Königin der „Wilden“ als Trophäe nach der „Lichterstadt“ geschleppt wurde.

An der asiatischen Küste liegen, von Wellen des Ozeans umspült, die lachenden Philippinen. Dort haben wir vor sechs Jahren die mildtätigen Yankees, dort haben wir den Washingtoner Senat an der Arbeit gesehen. Nicht feuerspeiende Berge – amerikanische Gewehre mähten da Menschenleben zu Hauf; der Zuckerkartell-Senat, der heut goldene Dollars, Tausend auf Tausend, nach Martinique schickt, um Leben aus den Ruinen zu locken, schickte nach Kuba Kanonen auf Kanonen, Panzerschiffe auf

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[1] Im September 1898 war es während eines Konfliktes zwischen Frankreich und Großbritannien um den Besitz des Sudan zu einem Zusammenstoß bei Faschoda gekommen, der beide Länder an den Rand eines Krieges führte. Der Konflikt wurde im März 1899 durch den formellen Verzicht Frankreichs im Austausch gegen einige andere afrikanische Gebiete beigelegt.

[2] Im Ergebnis des spanisch-amerikanischen Krieges von April bis Dezember 1898, des ersten imperialistischen Krieges um die Neuverteilung der Welt, verstärkten die USA ihren Einfluß in Lateinamerika, erweiterten ihr Kolonialreich durch Kuba, Puerto Rico und Guam und eroberten mit den Philippinen eine strategisch wichtige Militärbasis in Ostasien.