Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 234

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solchen, die aus allgemeinen Bestrebungen des Proletariats abgeleitet werden usw. Es genügt bereits, sich die ganze Mannigfaltigkeit in der konkreten Erscheinung des Generalstreiks, die mannigfaltigen Erfahrungen mit diesem Kampfmittel zu vergegenwärtigen, um jedes Schablonisieren und summarische Ablehnen oder Verherrlichen dieser Waffe als eine Gedankenlosigkeit erscheinen zu lassen.

Wenn wir den rein gewerkschaftlichen Branchengeneralstreik ausscheiden, der bereits in den meisten Ländern zur täglichen Erscheinung geworden ist und deshalb alles Theoretisieren überflüssig macht, und uns speziell dem politischen Generalstreik zuwenden, so muß unseres Erachtens dem Wesen dieser Kampfmethode entsprechend zweierlei unterschieden werden: der anarchistische Generalstreik und der politische Gelegenheitsmassenstreik, wie wir ihn ad hoc nennen möchten. In die erste Kategorie gehört vor allem der nationale, zur Einführung der sozialistischen Ordnung in Aussicht genommene Generalstreik, der seit jeher das Steckenpferd der französischen Gewerkschaften, der Broussisten und Allemanisten, darstellt. Diese Auffassung fand zum Beispiel ihren klaren Ausdruck in dem Blatte „LʼInternationale“ vom 27. Mai 1869, wo es heißt: „Wenn die Streiks sich ausbreiten, miteinander in Verbindung treten, so sind sie sehr nahe daran, zu einem Generalstreik zu werden; und ein Generalstreik mit den Befreiungsideen, welche gegenwärtig herrschen, kann nur mit einem großen Zusammenbruch enden, der die gesellschaftliche Umwälzung vollziehen würde.“ Im gleichen Sinne beschließt der französische Gewerkschaftskongreß in Bordeaux 1888: „Einzig und allein der Generalstreik oder die Revolution vermögen die Befreiung der Arbeiterklasse herbeizuführen.“ Als charakteristisches Seitenstück zu diesem Beschluß wurde von demselben Kongreß ein anderer gefaßt, worin die Arbeiter aufgefordert werden, „sich scharf von den Politikern abzuscheiden, die sie betrügen“. Auf dem gleichen Boden bewegt sich endlich auch der von Briand befürwortete und von Legien bekämpfte französische Antrag auf dem letzten Internationalen Sozialistenkongreß in Paris im Sommer 1900, der „die Arbeiter der ganzen Welt“ auffordert, „sich für den Generalstreik zu organisieren, sei es, daß diese Organisation in ihren Händen ein einfaches Mittel, ein Hebel sein soll, auf die kapitalistische Gesellschaft jenen Druck auszuüben, der zur Herbeiführung der notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reformen unerläßlich ist, sei es, daß die Umstände sich so günstig gestalten, daß der Generalstreik in den Dienst der sozialen Revolution gestellt werden kann.“[1] (Hervorhebungen – R. L.)

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[1] Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Paris. 23. bis 27. September 1900, Berlin 1900. S. 32.