Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 232

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ernstlich erschüttert sind. Allein, bereits hat das erste Experiment mit Rücksichtnahme auf die liberale Taktik zu heftigen Auseinandersetzungen geführt; es müßte das letzte bleiben, wenn es nicht zu Schlimmerem führen sollte.

Soviel zur Entgegnung dem Genossen É. Vandervelde.

Bei dieser Gelegenheit scheint es uns aber geboten, an die Vorgänge in Belgien einige Betrachtungen allgemeiner Natur zu knüpfen.

Wenn irgendeine Lehre klar und deutlich aus dem belgischen Experiment für das internationale Proletariat hervorgeht, so ist es unseres Erachtens jedenfalls die, daß die einseitigen Hoffnungen auf die parlamentarische Aktion und die bürgerliche Demokratie uns nur einer Reihe demoralisierender politischer Niederlagen entgegenführen können. In diesem Sinne müßten die Vorgänge in Belgien als eine praktische Probe auf die Theorien des Opportunismus betrachtet werden und folgerichtig zu einer gründlichen Revision dieser Theorien bei ihren Anhängern führen.

Es geschieht zum Teile das direkte Gegenteil davon. Sowohl in der belgischen wie in der deutschen Parteipresse werden in merkwürdiger Übereinstimmung mit dem Mosse-Freisinn[1] und dem Pfarrer Naumann[2] Versuche gemacht, die belgische Niederlage ganz umgekehrt zu einer Revision der revolutionären Taktik zu fruktifizieren. Der Generalstreik, die Straßenaktion überhaupt sollen in Belgien ihre Überlebtheit und Untauglichkeit bewiesen haben. Im Brüsseler „Peuple“ formuliert gar ein Genosse Franz Fischer als die oberste Lehre der jüngsten Erfahrungen – die Notwendigkeit des Überganges von der „Methode der revolutionären Phraseologie der Franzosen“ zur „wohldurchdachten Methode der Organisation und Aufklärung der deutschen Sozialdemokratie, dieser Avantgarde des internationalen Sozialismus“, und beruft sich dabei auf einen Beitrag im „Hamburger Echo“, nach dem der Fall der Pariser Kommune bereits die letzte Probe von der Unbrauchbarkeit der revolutionären Mittel gewesen wäre.

Auch sonst in der deutschen Parteipresse konnte man gleich nach der Einstellung des Generalstreiks in Belgien lesen, „die Taktik, die die belgischen Genossen nunmehr befolgen, sei keine andere als diejenige der deutschen Sozialdemokratie“, die deutsche Sozialdemokratie habe stets den Generalstreik „als unbrauchbar und überflüssig“ bekämpft, sie habe seit

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[1] Das „Berliner Tageblatt“, das der Freisinnigen Vereinigung politisch und personell nahestand, und die „Berliner Volkszeitung“, die mit dieser Partei in innenpolitischen Fragen übereinstimmte, wurden von dem Zeitungsverleger Rudolf Mosse herausgegeben.

[2] Friedrich Naumann, evangelischer Theologe, Gründer des Nationalsozialen Vereins, versuchte auf kleinbürgerlich-reformerischem Weg mit sozialliberalen Phrasen die Arbeiterklasse mit dem imperialistischen Staat zu versöhnen. Er arbeitete eng mit dem Finanzkapital zusammen und hatte Verbindungen zu sozialreformerischen Führern der deutschen Sozialdemokratie.