Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 230

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scheinen uns die Ausführungen des Genossen Vandervelde die Frage nur noch dunkler und schwieriger zu machen.

Die Liberalen ziehen selbst Vorteile aus dem bestehenden Wahlunrecht, sie wurden in die Wahlrechtskampagne wie zur Schlachtbank geschleppt, sie sind im Grunde genommen nicht Alliierte, sondern Gegner der Sozialisten gewesen – wie reimt sichʼs aber damit, daß die Arbeiterpartei doch diesen angeblichen Freunden zuliebe das Kampfobjekt auf das Männerwahlrecht beschränkte, auf jede offene Festlegung der Bedingungen der Wahlberechtigung (21. Lebensjahr) verzichtete und die den belgischen Genossen an sich wenig sympathische Proportionalwahl[1] zur Verfassungsklausel erhob?

Wie reimt sichʼs ferner damit, daß die belgischen Arbeiterführer während der ganzen Kampagne ihre Waffenbrüderschaft mit den Liberalen hochpriesen, ja daß ihr erster Ruf nach der erlittenen Niederlage in der Kammer wie draußen vor dem Volke war: Unsere Allianz mit den Liberalen ist fester denn je!

Genosse Vandervelde hat vollkommen recht, die belgischen Liberalen sind und erwiesen sich im Grunde genommen als Gegner und nicht als Freunde der Wahlrechtsbewegung. Das widerlegt aber nicht die Tatsache, daß die belgischen Genossen mit ihnen im letzten Kampfe Waffenbrüderschaft gehalten haben, sondern erklärt nur, weshalb dieser Kampf unter solchen Umständen zu einer eklatanten Niederlage führen mußte.

Und das bestätigen alle weiteren Ausführungen des Genossen Vandervelde. Sobald die Liberalen gleich zu Beginn der Kampagne die Arbeiterpartei verraten hatten, mußte es unseres Erachtens klar sein, daß die parlamentarische Aktion hoffnungslos und nur die außerparlamentarische, die Straßenaktion irgend etwas auszurichten imstande war.

Genosse Vandervelde schließt umgekehrt, daß, sobald die Liberalen sich gegen die Sozialisten gewendet hatten, die Straßenaktion aussichtslos wurde. Die Fortsetzung des Generalstreiks hätte dann nur noch den Zweck gehabt, den König zur Kammerauflösung zu bewegen, sobald auch der König versagte, blieb nichts übrig, als nach Hause zu gehen. Damit wäre aber nicht nur über den Generalstreik im letzten Falle, sondern über die Anwendung dieser Waffe in Belgien überhaupt das Todesurteil gesprochen. Denn es genügt, daß die Liberalen sich gegen die Massenbewegung aussprechen, daß Cléopold sich den Teufel um sie schert – und auf diese beiden Ergebnisse kann man mit voller Sicherheit auch fernerhin rechnen –, damit die Aktion der Arbeitermasse für zwecklos erklärt wird. Angesichts

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[1] Beim Proportionalwahlsystem wird die Zahl der Abgeordneten einer Partei aus dem Verhältnis der für sie abgegebenen Stimmen zu den insgesamt abgegebenen ermittelt.