Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 196

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sollte. Lediglich höhere ideelle Interessen erschütterten die Ruhe des braven Bürgers, wenn er in seiner täglichen Zeitung die Berichte über die parlamentarischen Gefechte seiner Vertreter las. War nämlich die klerikale Partei am Ruder, so hörte man nur das Jammern der Liberalen über die vergewaltigte Gewissensfreiheit in der konfessionellen Schule. Und war den Klerikalen wieder einmal die liberale Partei am Ruder gefolgt, so vernahm man nur im Lande fromme Angstrufe über die bedrohte Religiosität und Moral des Volkes.

Im übrigen, d. h., was das Fleischliche betrifft, führten beide Parteien ein ganz kontinuierliches harmonisches Regime, das Alfred Defuisseaux in seinem berühmten „Catéchisme du Peuple“ (Volkskatechismus) so charakterisierte:

„Welcher ist der erste Schrei eines katholischen Ministers, wenn er ans Ruder gelangt?

Sein erster Schrei ist: Die Kassen sind leer, die Liberalen haben alles genommen!

Welcher ist der erste Schrei eines liberalen Ministers, wenn er ans Ruder gelangt?

Sein erster Schrei ist: Die Kassen sind leer, die Klerikalen haben alles genommen!“

„Genommen“ wurde nämlich auf jeden Fall. Das Budget des kleinen, angeblich vom Militarismus freien Staates wuchs von 1850 bis 1870 und weiter bis 1882 in den schönen Sprüngen: 118 Millionen Francs, 216 Millionen und 422 Millionen! Dabei bestand aber das einzige Ergebnis der jährlich wachsenden Opfer des Landes – in der Eroberung und Gründung des Kongostaates und in den steigenden skrupellosen Manipulationen der Nationalbank.

Die Misere unter der Arbeiterschaft, namentlich in den Kohlengrubendistrikten, war grauenhaft. 14- und 16stündige Arbeitszeit war keine Ausnahme. Die Löhne standen auf dem tiefsten Niveau, und meistens in Naturalien ausbezahlt, dienten sie nur zur völligen Versklavung des Arbeiters und namentlich zur kräftigen Kultivierung des – Spiritualismus.

Schnaps und Gebete! – das waren die einzigen Tröster des belgischen Proletariats in dem „Paradiese“ der 70er und 80er Jahre. Unwissenheit, Analphabetentum verrichteten eifrigst Dienste für den Schnaps und das Pfaffentum, denn auch die Liberalen hatten es in ihrer letzten Herrschaftsperiode 1878 bis 1884 nicht einmal bis zum obligatorischen Schulunterricht gebracht.

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