Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 120

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Auge – und mit ihm die Mehrheit, die das Amendement votierte – den Fall im hessischen Landtag[1], wo nach der Darstellung des Mainzer Delegierten Joest die Ablehnung des Budgets eine Vergrößerung der Steuerlast in Hessen nach sich hätte ziehen können. Jaurès, in seiner Polemik gegen die prinzipielle Budgetablehnung, beruft sich auf die vor Jahren einmal vorgekommene exzeptionelle Lage, wo die Ablehnung des Budgets in Frankreich den Fall des Ministeriums und mit ihm der Gesetze über die Weltlichkeit der Schule, also einen empfindlichen Verlust für die Sache des Fortschritts und der Demokratie herbeigeführt haben würde. Auch die bayerischen Abgeordneten im Jahre 1894[2] riefen ihren Kritikern zu ihrer Verteidigung wie ein Mann entgegen: „Wir haben Gründe!“

In allen diesen Fällen gestaltete sich also die Kontroverse folgendermaßen: Während auf der einen Seite behauptet wurde, die Sozialdemokratie könne niemals, unter keinen Umständen dem bürgerlichen Staate die Existenzmittel bewilligen, hielt man auf der anderen daran fest, daß es Fälle geben könne, wo diese unsere unversöhnliche Oppositionsstellung mit unmittelbaren, handgreiflichen Interessen der Arbeiterklasse in Konflikt geraten, wo erhebliche Interessen der Volksmasse durch die Verweigerung des Budgets geschädigt würden.

Inbetrachtziehung von Ausnahmefallen, Berücksichtigung unmittelbarer praktischer Erfolge, wo ihnen die prinzipielle Budgetablehnung angeblich in den Weg tritt – das war es also, was man füglich unter der taktischen Auffassung der Frage verstehen konnte.

Welches waren nun die besonderen Gründe der badischen Abgeordneten, als sie dreimal in den letzten Jahren das Budget bewilligt haben?

Fendrich führt in seinem Artikel in den „Sozialistischen Monatsheften“ (Septemberheft)[3] zweierlei ins Feld: Erstens überwiegen die „Kulturausgaben“ im Staatshaushalt Badens, und wenn wir die Mehrheit der Posten bewilligt haben, wäre es Unsinn, das Ganze abzulehnen; zweitens würden uns die Massen nicht verstehen, wenn wir Reformen forderten und gleichzeitig die Mittel zu ihrer Ausführung verweigerten. Diese Gründe kann man nun einschätzen, wie man will, eines geht aber aus ihnen auf alle Fälle hervor: Sie haben mit irgendeiner ausnahmsweisen politischen Situa-

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[1] Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts hatten die sozialdemokratischen Vertreter im hessischen Landtag dem Finanzgesetz zugestimmt.

[2] Am 1. Juni 1894 hatte die sozialdemokratische Fraktion des bayrischen Landtags unter Führung Georg von Vollmars dem Budget zugestimmt und damit erstmals das von August Bebel aufgestellte Prinzip der revolutionären Sozialdemokratie „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“ durchbrochen.

[3] Anton Fendrich: Zur Frage der Budgetbewilligung. In: Sozialistische Monatshefte (Berlin), 5. Jg. 1901, Nr. 9, S. 649–661.