Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 82

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für den heutigen Kurs in Preußen-Deutschland in erster Linie verantwortlich zu machen ist. Dasselbe trifft auf die Zollpolitik, auf die innere Politik zu. Ebenso wie den Land- und Wassermilitarismus machen die Südstaaten den Brotwucher des Reiches, die Zuchthausvorlage[1], die gesamte innere und auswärtige Reaktion mit.

Die grundsätzliche Unterscheidung des Reichs- und der Staatsbudgets, der Reichs- und der Einzelstaatspolitik ist ein Ausfluß der auch in manchen Parteikreisen im Süden spukenden Ansichten, wonach die herrschende Reaktion nur auf das Reich und namentlich auf Preußen zurückgeführt wird, die Südstaaten aber als politische Gebilde für sich betrachtet werden, die, von Hause aus demokratisch, nur durch ihre Ohnmacht gegenüber Preußen an dessen Scheußlichkeiten teilzunehmen gezwungen werden. Es ist dies aber nichts als ein kritikloses Nachbeten der süddeutschen Partikularisten à la Sigl[2], die als echte Kleinbürger den geschichtlichen, dialektischen Zusammenhang zwischen der „Demokratie“ des Südens und der Reaktion des Nordens nicht zu erfassen vermögen und die die schönen Blüten der modernen zentralistischen Großstaatsexistenz – den wirtschaftlichen Aufschwung, die politische Machtstellung – gern pflücken möchten, die andere Seite derselben Entwicklung aber – den zentralisierten reichsdeutschen Militarismus mit der reichsdeutschen Reaktion unter Preußens Hegemonie – bloß als lästige und überflüssige Beigaben betrachten.

In Wirklichkeit ist es gerade der Umstand, daß der Militarismus vom Reiche im Namen und für die Rechnung der Südstaaten kultiviert wird, der es eben den Südstaaten ermöglicht, bei sich zu Hause als die unterdrückte demokratische Unschuld zu erscheinen und sich „in der Hauptsache“ den Fendrichschen „Kulturaufgaben“ zu widmen. Neben der ökonomischen, das heißt der großkapitalistischen Entwicklung, ist es – als ihre politische Ergänzung – eben der Militarismus, der in dem Deutschen Reiche in seiner heutigen Gestalt das stärkste Bindeglied, das Element der Einheit, der Zusammengehörigkeit für die Einzelstaaten bildet. Nicht die reichsdeutsche Reaktion ist deshalb eine Folge der politischen Machtlosigkeit der Südstaaten im Reiche, sondern umgekehrt diese Machtlosigkeit ist ein logisches Ergebnis der allgemeinen militaristischen Entwicklung der deutschen Einzelstaaten, die sie an das Reich und an Preußen mit eisernen Ketten bindet.

Und ebenso wie alle Bundesstaaten Deutschlands militaristisch und

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[1] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der „Vorwärts“ am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.

[2] Gemeint ist Joseph Sigl, Redakteur der Zeitung „Bayerisches Vaterland“ und Mitglied des Reichstags.