Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 538

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war die Forderung des Achtstundentages der rote Faden, der durch die Lohnkämpfe aller Branchen zog und den Grundton der Kämpfe, das einigende Element, die revolutionäre Note dieser Einzelkämpfe bildete. Schon die bisherige erste Periode der russischen Revolution hat sich somit zu einer mächtigen Kundgebung für die internationale Mailosung gestaltet. Sie hat gezeigt wie kein anderes Beispiel bis jetzt, wie tief die Idee des achtstündigen Arbeitstages in der sozialen Lage des Weltproletariats wurzelt, wie sehr der Achtstundentag eine Lebensfrage für das Proletariat in allen Ländern ist.

Kein Mensch dachte in Rußland daran, die politischen Hauptziele der jetzigen Revolution speziell mit der Forderung des Achtstundentages zu verbinden oder diese letztere gar in den Vordergrund zu stellen. In der ganzen Agitation, die dem Ausbruch der Revolutioft vorausgegangen war, wurde das Hauptgewicht naturgemäß und mit einer gewissen begreiflichen Einseitigkeit auf die rein politischen Forderungen: die Beseitigung der Alleinherrschaft, die Einberufung der konstituierenden Versammlung, die Proklamierung der Republik, gelegt. Das Proletariat erhob sich nun in Massen – und griff instinktiv neben den politischen Forderungen sofort zu der sozialen Hauptforderung des Achtstundentages, die gesunde revolutionäre Massenerhebung korrigierte wie von selbst die Einseitigkeit der sozialdemokratischen politisch zugespitzten Agitation und verwandelte durch diese internationale rein proletarische Forderung die formell „bürgerliche“ Revolution in eine bewußt proletarische. Die demokratische Verfassung, ja sogar die republikanische Verfassung – das sind Losungen, die ihrem historischen Inhalt nach ebensogut von bürgerlichen Klassen aufgestellt werden können, ja eigentlich spezielles Eigentum der bürgerlichen Demokratie sind. Insofern trat die Arbeiterschaft Rußlands nur „in Vertretung“ der Bourgeoisie auf die politische Bühne. Der Achtstundentag dagegen ist eine Forderung, die nur von der Arbeiterklasse aufgestellt werden kann, die weder durch Tradition noch dem Sinne nach mit der bürgerlichen Demokratie verknüpft ist, die im Gegenteil speziell dem Träger der bürgerlichen Demokratie – dem Kleinbürgertum – in allen Ländern noch verhaßter ist als dem großindustriellen Kapital. Der Achtstundentag ist also auch in Rußland nicht die Parole der Gemeinsamkeit der proletarischen Interessen mit allen fortschrittlichen bürgerlichen Elementen, sondern die Parole des Gegensatzes, des Klassenkampfes. Vereinigt unzertrennbar mit den politisch-demokratischen Forderungen, zeigt sie sofort an, daß das Proletariat des Zarenreichs seine „Vertretung“ der Bourgeoisie in gegenwärtiger Revolution mit vollem Bewußtsein im

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