Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 284

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die polnischen Sonderbündler nehmen für sich das Recht in Anspruch, eine eigene Partei zu bilden, und keine Macht der Welt wird ihnen die einfache Tatsache beibringen, daß wir nicht als Polen oder Deutsche, sondern als Arbeiter zur Partei gehören. Auch in der Form der Aufstellung der Reichstagskandidaturen begreifen diese Leute es nicht, daß wir nicht als Polen oder Deutsche, sondern als Sozialdemokraten die Kandidaten aufstellen. Die polnischen Sonderbündler sind die allerletzten, die das Recht haben, sich über Mangel an organisatorischer Selbständigkeit zu beklagen; solange sie zur Gesamtpartei gehörten, genossen sie die größte Freiheit und Selbständigkeit. Die Ansicht, daß sich das Vorgehen der Sonderbündler durch die brutale Unterdrückung der polnischen Nation rechtfertigen lasse, ist auch nicht stichhaltig. Nicht durch Absonderung von den deutschen Genossen, sondern im engsten Anschluß an sie können die Interessen der Polen am besten vertreten werden, und die deutsche Sozialdemokratie – das müssen wir als Polen offen aussprechen – hat sich gegenüber dem polnischen Proletariat stets auf der Höhe ihrer Aufgabe gezeigt. Die Sozialdemokratie ist die einzige Partei, die nachdrücklich und aufrichtig das polnische Volk gegen die Hakatisten[1] schützt und diese als eine Teilerscheinung der Reaktion mit aller Macht bekämpft. Trotzdem haben sich die Sonderbündler von der Gesamtpartei losgelöst, und ihr Vertreter hat auf unserem schlesischen Provinzialparteitag sogar erklärt, er pfeife auf die Beschlüsse der deutschen Sozialdemokratie[2]. Den polnischen Sonderbündlern kommt es nur auf die Wiederherstellung des polnischen Nationalstaates an. Man sollte meinen, daß man mitten in den herrlichen Gefilden der preußischen Politik dringendere Aufgaben zu lösen hätte, als um den Bart des Königs dieser nicht existierenden polnischen Staaten zu streiten. Dieser separatistische Standpunkt hat die Sonderbündler dazu verführt, vor allem die deutsche Sozialdemokratie zu bekämpfen und die Befreiung der polnischen Arbeiter von der deutschen Sozialdemokratie zu beginnen. Außerdem haben sich die Sonderbündler mit Haut und Haar allerhand studentischen Komitees in London, Paris etc. ausgeliefert, auf die wir keinen Einfluß haben. Ich bin immer für die Verständigung gewesen, aber diese müßte eine endgültige und der Friede ein definitiver sein. Es käme für uns nicht darauf an, einzelne Reichstagskandidaturen auszutauschen, sondern die polnischen Sonderbündler müssen sich in Reih und Glied mit uns stellen. Ich akzeptiere das Amendement Bebe1[3]. Nicht als ob ich besondere

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[1] Gemeint ist der 1894 gegründete Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken, ab 1899 Deutscher Ostmarkenverein, nach den Anfangsbuchstaben seiner Gründer, Ferdinand von Hansemann, Hermann Kennemann und Heinrich von Tiedemann-Seeheim, auch Hakatistenverein genannt. Er vertrat eine rücksichtslose wirtschaftliche und politische Unterdrückungspolitik gegenüber den Polen in den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches und strebte die territoriale Expansion nach dem Osten an.

[2] Georg Haase auf dem Parteitag der schlesischen Sozialdemokraten am 12. Mai 1901 in Breslau.

[3] Diese von Rosa Luxemburg und 22 Sozialdemokraten eingebrachte Resolution wurde mit einem Abänderungsvorschlag August Bebels angenommen. Danach bekamen die letzten drei Absätze folgende Fassung: „... so muß die Absonderung einer polnischen Gruppe, der Polnischen Sozialistischen Partei, die sich in einen Gegensatz zur Gesamtpartei gestellt hat, als ein ungerechtfertigtes Vorgehen angesehen werden. Der Parteitag verurteilt scharf die von der Gruppe Polnische Sozialistische Partei provozierten Doppelkandidaturen in Oberschlesien und ersucht den Parteivorstand, nochmals den Versuch zu machen, eine Verständigung zwischen den streitenden Parteien herbeizuführen, die im Interesse der gesamten Sozialdemokratie liegt.“ (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu München vom 14. bis 20. September 1902, Berlin 1902, S. 88.)