Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 149

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sten Denker unter seinen deutschen Zeitgenossen, freilich liefern auch diese Briefe ein reiches Material zum Verständnis der Lassalleschen Theorie und Agitation. Aber was den großen Unterschied zwischen dieser und der soeben erschienenen Publikation ausmacht: dort, in den Briefen an Rodbertus, haben wir den fertigen Lassalle vor uns, in seiner politischen Eigenart, bereits mitten in seiner Agitation, auf seinem selbstgewählten politischen Pfad; hier, in den Briefen an Marx, können wir zuerst seine geistige Entwicklung, sein Werden verfolgen, von den ersten Schritten auf der politischen Bühne im Jahre 1849 bis zum Anfang der 60er Jahre, von seiner völligen Übereinstimmung mit Marx in allen wichtigeren Fragen der Theorie und der Praxis bis zu dem Punkt, wo sich die Wege der beiden Führer trennten, um schroff auseinanderzugehen.

Die Briefe an Marx und Engels sind nicht nur die erste Veröffentlichung, die uns Lassalle im Verkehr mit Gleichgesinnten zeigt, sondern auch die erste, die von einem Gleichgesinnten besorgt worden ist. Die bisherigen Briefsammlungen Lassalles waren jedesmal von bürgerlichen Herausgebern veranstaltet – manchmal möchte man sagen: verunstaltet – worden, wobei die nötigen Kenntnisse sowie jedes Verständnis für das Ganze des Lassalleschen Lebens und Wirkens fehlten. In dem vorliegenden Bande liefert uns Mehring in seinen Nachbemerkungen zu jedem Jahrgang der Korrespondenz mit liebevoller Sorgfalt, der keine Mühe zu groß ist, um auch dem dünnsten Faden aus den politischen Beziehungen Lassalles bis zu seinem Verschwinden nachzuspüren, alles historische, politische und literarische Material, das zur Vervollständigung des Bildes Lassalles und seiner Epoche erforderlich ist.

Mehring selbst nennt in seiner Vorrede die Briefe an Marx eine Ehrenrettung Lassalles. Das ist in der Tat das richtige Wort für den Gesamteindruck, von dem sich jeder unbefangene Leser beherrscht fühlt, als er das spannende Buch aus der Hand legt. Eine Ehrenrettung – namentlich auch gegenüber der bis jetzt parteioffiziellen Schilderung Lassalles aus der Feder Bernsteins[1]. Ed. Bernstein kannte allerdings die Briefe im Original, und er zitiert sie auch bruchstückweise bereits in seiner Vorrede zur Ausgabe der Lassalleschen Schriften. Aber gerade deshalb ist es höchst verdienstvoll, dem obersten Richter, dem lesenden Publikum, die Dokumente selbst in die Hand zu legen, um darzutun, wie eine subjektive, vorgefaßte Vorstellung manchmal gegen die schlagendsten Beweise standhalten kann. Nicht nur einzelne tatsächliche Behauptungen Bernsteins, wie zum Bei-

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[1] Ferd. Lassalleʼs Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung herausgegeben von Ed. Bernstein, Erster Band, Berlin 1892, S. 5–185.