Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 9

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langen, wir sollen „alle Fragen der inneren Politik hinter die Marokkofrage zurückstellen“. Als die allerletzten stehen wohl in diesem Verdacht Vaillant und die französischen Genossen, die ja selbst ein lebendiges Beispiel geben, wie man das eine tun kann, ohne das andre zu lassen, indem sie ganz unbeschadet ihrer energischen Agitation gegen das Marokkoabenteuer aufs lebhafteste ihre innerpolitischen Probleme, in erster Linie die Versicherungsvorlage[1], diskutieren. Ebensowenig hat die kräftige Protestaktion Iglesias’ und Genossen den sonstigen politischen Kampf der Partei in Spanien und namentlich in Saragossa verhindert.[2]

Ferner ist es sehr wahrscheinlich, daß die Gegner in ihrer Not und Drangsal aus dem Marokkorummel eine Wahlparole gegen die Sozialdemokratie zu schmieden versuchen, um eine Art „patriotische“ Faschingswahlen zustande zu bringen. Allein gerade wenn man dies annimmt und gar glaubt, dieses lächerliche und frivole Abenteuer könnte selbst „eine wirksame Parole“ gegen uns abgeben, dann erscheint es völlig unlogisch, der Erörterung dieser Frage bei der Agitation aus dem Wege zu gehen. Haben wir zu erwarten, daß die Reaktion mit dem Marokkoköder krebsen geht, dann wäre doch das einzige Mittel, um diese Parole unwirksam zu machen und diese Manipulationen zu durchkreuzen, wenn wir selbst so früh wie möglich und so gründlich wie möglich die Volksmassen über den kläglichen Hintergrund und die schmutzigen Kapitalsinteressen, die da in Betracht kommen, aufklären. In welcher Weise uns die eigene Erörterung, die eigene Agitation gegen diesen neuen Vorstoß der kapitalistischen Reaktion eine Niederlage bereiten könnte, ist unbegreiflich. Hier kommt ein so geringes Vertrauen in die überzeugende Macht unsrer Auffassung, in die Werbekraft unsrer Agitation zum Ausdruck, daß man sich vergeblich nach Ursachen fragt. Im Jahre 1870 scheuten sich Bebel und Liebknecht nicht, gegen alle entfesselten Furien des Hurrapatriotismus laut unser Bekenntnis zum Frieden und zur Volksverbrüderung zu vertreten.[3] Wenn sie es nicht „in jedem Dorf“ taten, so wohl nur des-

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[1] Am 3. Juli 1911 war in Frankreich die pflichtmäßige Altersversorgung für Industrie- und Landarbeiter in Kraft getreten.

[2] Am 10. Juli 1911 hatten die spanischen Sozialisten gemeinsam mit den Republikanern in Valencia eine Protestversammlung gegen die imperialistische Politik Spaniens in Marokko durchgeführt, an der sich etwa 20 000 Personen beteiligten. Unter anderen hatte dabei Pablo Iglesias das Wort ergriffen. Am gleichen Tage war in Saragossa ein Generalstreik ausgebrochen, der bis zum 16. Juli andauerte.

[3] August Bebel und Wilhelm Liebknecht hatten sich im November 1870 im Norddeutschen Reichstag gegen den Eroberungskrieg und gegen die Annexionsbestrebungen der herrschenden Klassen in Deutschland gewandt und offen ihre Solidarität mit dem französischen Volk bekundet. Sie lehnten die Kredite zur Weiterführung des Krieges gegen die junge französische Republik ab und wurden deshalb von den bürgerlichen Abgeordneten heftig angegriffen und beschimpft.