Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 348

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Scheidemanns endlich von diesem Standpunkt abzurücken und den Willen zur Tat wieder stärker zu betonen, so liegt in dieser Entschleierung der ganzen Situation vor den Blicken der Partei ein unschätzbarer Gewinn. Daß die Debatte über den Massenstreik trotz allem Widerstand auf dem Parteitag stattgefunden hat, daß sie dadurch wieder in alle Parteiversammlungen hineingetragen wird, daß die Massen sich mit der Frage beschäftigen, daß sie erfuhren, was sie von ihren Führern hüben wie drüben zu erwarten haben, daß sie klar einzusehen Gelegenheit hatten, wie sehr es nötig ist, durch eigenen Druck Feuer dahinter zu machen, wenn die Kampfweise der Partei vorwärtskommen soll – das sind alles unbestrittene Errungenschaften der Minderheit, die hier gerade von ihrem Standpunkt gesiegt hat, obwohl ihre Resolution[1] von der Mehrheit abgelehnt worden ist.

II

Ebenso wie die Massenstreikfrage ist die Steuerfrage durch die jüngste imperialistische Entwicklung für die Partei aktuell geworden. Denn was ist in der „neuen Ära“ der Besitzsteuer in Deutschland zum Ausdruck gekommen? Doch nichts anderes als die Tatsache, daß der deutsche Militarismus in seinem Vorwärtsstürmen auch die krampfhaftesten Windungen der indirekten Steuerschraube überholt und die teilweise Heranziehung der Bourgeoisie zur Bestreitung seiner Kosten notwendig macht. Dadurch ist die in England längst verwirklichte Besteuerung des Besitzes als eine ganz neue Tatsache vor unsere Parlamentarier getreten und hat unter ihnen im ersten Moment eine ziemliche Verwirrung angerichtet. Daß der Parteitag diese Verwirrung seinerseits nicht beseitigt, vielmehr durch die Art der Behandlung der Frage wie durch die angenommene Resolution zum Gemeingut der Partei gemacht hatte, dürfte jetzt so ziemlich die Empfindung der meisten Genossen sein.

In der Tat ist kaum eine ernste theoretische und praktische Frage auf einem deutschen Parteitag in so überaus mangelhafter Weise behandelt worden wie die Steuerfrage. Seit vier Jahren steht die Frage auf der Tagesordnung. Es scheint, daß inzwischen Zeit genug vorhanden war, eine gründliche Behandlung der Materie vorzubereiten. Doch gerade hier versagte vor allem die dazu berufene wissenschaftliche Revue der Partei, die „Neue Zeit“, völlig. Statt einzuleiten, hat die „Neue Zeit“ nicht einmal Abhandlungen darüber aus der Feder der Redakteure selbst gebracht,

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 14. bis 20. September 1913 in Jena. In: GW, Bd. 3, S. 328 f.