Illusionen in bezug auf den alten und „neuen“ Liberalismus, mit allen Experimenten, um heute das Zentrum mit Hilfe der Nationalliberalen und morgen die Nationalliberalen mit Hilfe des Zentrums als die „wahre Reaktion“ zu stürzen. Ist der preußische Wahlrechtskampf ein reichsdeutsches Lebensinteresse, dann ist auch die Taktik der reichsdeutschen Sozialdemokratie eine preußische Angelegenheit. Nicht die Parole zum Massenstreik ins Blaue hinein, sondern die allgemeine Gestaltung der Taktik im Geiste des konsequenten revolutionären Klassenkampfes und in der Richtung auf eine energische Offensive im ganzen, im Norden wie im Süden – das ist die dringendste Aufgabe der Partei.
II
Leipzig, 27. Juni
Es entsteht nunmehr die Frage, die viele sonst kampffrohe Genossen ernstlich beunruhigt: ob wir denn überhaupt zu erfolgreichen Massenaktionen reif seien, ob der Stand unsrer Organisationen, die ja erst einen geringen Teil der Arbeiterschaft umfassen, an Massenstreiks in Deutschland zu denken gestatte. Die neulich vom Genossen Meerfeld geäußerte Meinung, wonach den Deutschen kraft ihrer besonderen nationalen Eigenschaften die Fähigkeit zu stürmischen Massenaktionen abgehe, bedarf freilich kaum einer ernsthaften Widerlegung. Der Klassenkampf des Proletariats ist eine so tiefgewurzelte Erscheinung der modernen Geschichtsentwicklung, daß er in seinen Hauptäußerungen von allgemeinen sozialen und internationalen Verhältnissen, nicht von so nebensächlichen Momenten wie nationales Temperament bestimmt wird. Eher sind schon die besondere politische Geschichte jedes Landes und die mit ihr verbundenen Traditionen von Einfluß. Der Mangel an jeder großen revolutionären Tradition im deutschen Bürgertum und daher auch im deutschen Proletariat hat sicher bis in die Reihen der Sozialdemokratie einen gewissen Mangel an Selbstvertrauen, ein Übermaß an eingefleischtem Respekt vor der „Gesetzlichkeit“ des absolutistisch-bürokratischen Polizeistaates und vor der Autorität des Schutzmannssäbels erzeugt. Aber auch diese Psychologie wandelt sich schließlich rasch in großen Momenten, in revolutionären Situationen, die uns in naher Zukunft nicht erspart bleiben. Überhaupt ist eine so allgemeine und hoffnungslose Heulmeierei über unsre „Verbürgerlichung“, wie sie Genosse Meerfeld in der „Neuen Zeit“ angestimmt hat, völlig unfruchtbar. Sie dient auch manchem „radikalen“ Genossen als bequeme innere Entschuldigung, um in der Praxis alle fünf