Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 435

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Fünfundzwanzig Jahre Maifeier

Ein Vierteljahrhundert im Leben der Völker ist wie eine Sekunde im Leben des Menschen. Und doch welcher gewaltige Umschwung, wenn wir unsere Blicke auf die verflossenen fünfundzwanzig Jahre seit dem Bestehen der internationalen Maifeier richten!

Als im Jahre 1890 zum ersten Mal die Bande der neuen Internationale durch das Maifest eingeweiht wurden, boten die sozialdemokratischen Armeen allenthalben das Bild kleiner, schwacher Haufen dar. Die Arbeiterparteien der wichtigsten Länder waren erst vor wenigen Jahren gegründet worden, ihre Vorhut, die deutsche Sozialdemokratie, hatte eben erst die elfjährige Kraftprobe des Ausnahmegesetzes siegreich bestanden. Heute zählen die deutsche Partei wie die deutschen Gewerkschaften ihre Mitglieder nach Millionen, und in allen kapitalistischen Ländern stehen starke organisierte Parteien und ansehnliche Gewerkschaften an der Spitze des kämpfenden Proletariats. Während damals erst kleine Vorposten in den Parlamenten die Sache der Sozialdemokratie vertraten, hat sie seitdem eine großartige parlamentarische Aktion entfaltet, ist in allen Ländern in die gesetzgebenden Körper vom Zentralparlament bis zum Gemeinderat eingedrungen. In diesen fünfundzwanzig Jahren ist die sozialistische Presse zu einer gewaltigen Macht geworden, ist die systematische Bildungsarbeit der Sozialdemokratie und die proletarische Jugendbewegung entstanden.

Doch war dieser stete Aufstieg der Arbeiterklasse nur ein Reflex tiefgreifender Verschiebungen im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft selbst.

Die kapitalistische Produktion, die Industrialisierung der Welt ist im letzten Vierteljahrhundert mit Riesenschritten vorwärtsgegangen. Der technische Fortschritt auf allen Gebieten, namentlich in der Elektrotech-

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