Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 254

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mal, wo die politische Situation dies erfordert. Die unorganisierten Massen, ja die gegnerisch organisierten Schichten werden ihr dann begeistert Heerbann leisten. Als Beweis diene dasselbe belgische Beispiel, das vielfach von verkehrter Seite auf unsre Genossen so faszinierend wirkt. Das Wichtigste, was sich als positive Lehre aus dem belgischen Experiment ergibt, ist gerade die Tatsache, daß die unorganisierten Massen in wichtigen Momenten nie versagen und daß jede ernste Aktion der Sozialdemokratie ohne diese Massen ganz undenkbar wäre. In Belgien lassen die gewerkschaftlichen wie die politischen Organisationen so ziemlich alles zu wünschen übrig, auf jeden Fall können sie sich mit den deutschen nicht entfernt messen. Und doch kommt seit 20 Jahren ein imposanter Wahlrechtsstreik nach dem andern zustande.

Allerdings können die Massen nur dann Erfolge erzielen, wenn die Führung der Partei konsequent, entschlossen und durchsichtig klar ist. Wird auf zwei Schritte vorwärts stets ein Schritt zurück gemacht, dann werden schließlich auch die Massenaktionen verpuffen. In jedem Fall versagt aber dann, wenn ein politischer Feldzug scheitert, nicht die unorganisierte Masse, sondern die organisierte Partei und ihre Führung.

Die Sozialdemokratie ist historisch dazu berufen, die Vorhut des Proletariats zu sein, sie soll als Partei der Arbeiterklasse führend voranstürmen. Bildet sie sich aber ein, sie allein, die Sozialdemokratie, sei berufen, die Geschichte zu machen, die Klasse sei selbst nichts, sie müsse erst ganz in Partei verwandelt werden, ehe sie handeln darf, dann kann sich leicht ergeben, daß die Sozialdemokratie zum hemmenden Moment im Klassenkampf wird und daß sie, wenn die Zeit reif ist, der Arbeiterklasse nachlaufen muß, von ihr wider Willen zu Entscheidungsschlachten geschleift.

III

Leipzig, 28. Juni

Jedennoch wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, sich einzubilden, die preußische Wahlrechtsfrage könnte durch irgendeinen etwa vom Parteitag oder in dessen Auftrag beschlossenen Massenstreik wie der Gordische Knoten durch einen Schwerthieb durchhauen werden. Schon die Vorstellung von irgendeinem einzelnen Massenstreik, der womöglich nach gründlichster Vorbereitung von langer Hand, in schönstem Schick zur festgesetzten Stunde „losbricht“, ist eine ganz verfehlte Spekulation: Auf diese Weise, nach strengem Plan und auf Kommando, lassen sich allenfalls kurze Demonstrationsstreiks aus besonderen momentanen Anlässen ver-

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