Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 240

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Diskussionsrede zum Massenstreik am 10. Juni 1913 in einer Parteiversammlung in Wilmersdorf

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

Gestatten Sie mir, den Eindruck zu schildern, den ich heute als schlichte Frau aus dem Volke gewann. Ich habe herzliche Freude über die Zustimmung der Versammlung zu den stärksten Stellen des Referats, herzliche Freude aber auch über den Redner selbst empfunden.[2] Durch ein freisinniges Blatt auf diese Versammlung aufmerksam gemacht, das wohl eine Sensation erwartete, erlebte ich in der Tat eine Sensation. Frank lehrt uns heute, daß die Massen das Wunderwerk der politischen Befreiung vollbringen können, das im Parlament nicht zu erreichen ist. Wer den Massenstreik will, bekundet, daß er jede Hoffnung auf die Unterstützung durch die liberalen Parteien als auf Sand gebaut erkennt. Aber ich frage: Ist es möglich und wahr, daß man in Baden auf einen Großblock hinarbeitet[3], in Preußen aber den Massenstreik propagiert? Ich frage nicht aus kleinlicher Ranküne (Heiterkeit.), aber mir beweist die Rede Franks, daß auch die badischen Parteiführer durch die Verschärfung der politischen Gegensätze zu dem Bekenntnis getrieben werden, daß die Massen des Volkes handeln müssen. Ich hätte den Badener Parteigenossen gewünscht, die heutige Rede Dr. Franks zu hören! Als ich in Mannheim vor einiger Zeit über den Generalstreik sprechen wollte, wurde es mir verboten. („Hört! Hört!“ Dr. Frank widerspricht.) Ich darf sagen, daß ich mit zu den ersten Vertretern des Massenstreiks in Deutschland gehört habe, daß der Massenstreik nicht auf eine falsche Bahn gebracht werden darf. Er ist kein Wundermittel, das man jederzeit

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[1] Redaktionelle Überschrift.

[2] Da die Arbeitermassen nach neuen Kampfmitteln drängten, sah sich der Referent der Versammlung, der badische Opportunist Ludwig Frank, gezwungen, den Massenstreik als Kampfmittel für die preußische Wahlrechtsreform anzuerkennen.

[3] Unter dem Vorwand, den reaktionärsten Parteien, den Konservativen und dem Zentrum, eine „aktionsfähige Mehrheit“ entgegenzustellen, hatten die Sozialdemokraten im badischen Landtag 1910 mit den Liberalen einen Block gebildet. Mit diesem „Großblock“, der anläßlich der Landtagswahlen 1913 erneuert wurde, setzten sie sich in Widerspruch zu den Grundsätzen und Beschlüssen der Sozialdemokratischen Partei und unterstützten die Politik der bürgerlichen Regierung.