Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 100

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Unsere Stichwahltaktik

I

Leipzig, 29. Februar

Anderthalb Monate sind seit der Hauptwahl[1], ein Monat seit dem letzten Stichwahltage verflossen, und noch hat unser Parteivorstand leider nicht für angezeigt gehalten, das von ihm für die Stichwahlen mit der Fortschrittspartei geschlossene Abkommen[2] zu veröffentlichen und vor der Öffentlichkeit zu begründen. Freilich ist es der Parteipresse und den betroffenen Wahlkreisorganisationen vertraulich mitgeteilt worden, was ja zur Ausführung des Abkommens selbst unerläßlich war, ebenso ist der Presse nachträglich eine Begründung zugegangen. Allein die breiten Parteikreise, die Masse der Parteigenossen sind bis jetzt in Unkenntnis über diese wichtige politische Aktion der Partei, deren Erörterung offenbar am geeignetsten dann einsetzen könnte, wenn der Parteivorstand die von ihm im Namen der Partei betriebene Taktik sowie seine Gründe und Erwägungen der Gesamtpartei selbst zur Prüfung unterbreitet hätte. Daß dies bis jetzt nicht geschehen, ist um so befremdender, als ja dem Parteivorstand nichts ferner liegt als die Absicht, eine öffentliche Erörterung der Angelegenheit verhindern zu wollen. Das wäre bei dem ganzen Charakter unsrer Partei ja auch völlig ausgeschlossen.

Im Grunde genommen gehörte die Abmachung gleich während der Stichwahlen vor die Öffentlichkeit, und selbst Genossen, die mit der Taktik des Parteivorstands einverstanden sein dürften, werden ihre Heimlichkeit bedauern. Bei bürgerlichen Parteien, die in solchen Gelegenheiten gewohnheitsmäßig Verrat an den eignen Prinzipien verüben, liegt aller Grund vor, das abgeschlossene Schachergeschäft vor dem Tageslicht zu verbergen. Bei der Sozialdemokratie hingegen widerspricht es dem Wesen

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[1] Siehe S. 6, Fußnote 3.

[2] Siehe S. 91, Fußnote 3.