Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 476

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Der Friede, der Dreibund und wir

Die Vorgänge haben der internationalen Politik der Sozialdemokratie ein glänzendes Zeugnis ausgestellt. Heute sieht der Blinde, daß die unaufhörlichen Wettrüstungen und imperialistischen Zettelungen mit eherner Notwendigkeit zu dem Ergebnis geführt haben, vor dem die Partei des klassenbewußten Proletariats nachdrücklich und unermüdlich gewarnt hat: dicht an den Abgrund eines furchtbaren europäischen Krieges. Heute erkennen mit Entsetzen auch diejenigen Volksschichten, die sich durch die chauvinistische Hetze des Militarismus hatten einfangen lassen, daß das unaufhörliche Rüsten nicht eine Bürgschaft des Friedens, sondern eine Saat des Krieges mit all seinen Schrecken war. Gerade das Groteske des unmittelbaren Anlasses, aus dem morgen vielleicht in ganz Europa der Kriegsbrand auflodern wird, zeigt am deutlichsten, wie die imperialistischen Staaten in ihrem blinden Treiben Mächte auf den Plan gerufen haben, die ihnen in einem gegebenen Moment über den Kopf wachsen und sie in ihren Strudel reißen werden. Es zeigt sich ferner mit aller handgreiflichen Deutlichkeit, wie sehr die militaristischen Bündnisse, die nach der verlogenen offiziellen Darstellung, auf die naive Gemüter hereinfielen, Pfeiler des europäischen Gleichgewichts und des Friedens sein sollten, sich umgekehrt als mechanische Mittel trefflich bewähren, in einen lokalen Konflikt zweier Staaten alle anderen Großmächte hineinzuziehen und so einen Weltkrieg heraufzubeschwören. Der Dreibund hat sich diesmal genauso ohnmächtig gezeigt, einen österreichischen Kriegsvorstoß zu verhüten, wie er vor drei Jahren außerstande war, Italien vor dem blutigen Abenteuer in Tripolis[1] zurückzuhalten. Die Verpflichtungen der Bundesgenossen gegeneinander reichten nicht so weit, für das österreichische Ulti-

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[1] Im September 1911 hatte Italien einen Krieg gegen das türkische Reich provoziert. Unter Ausnutzung der imperialistischen Gegensätze um Marokko gelang es Italien im Oktober 1912, Tripolis und die Cyrenaica zu annektieren.