Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 475

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Und nun findet man angesichts aller dieser Umstände nichts Eiligeres, als ausgerechnet die Maifeier abzuschaffen! Freilich ist es den Wühlereien der Gegner der Maifeier wie aller Massenaktionen gelungen, durch die Unterstützungsfrage wie durch eine systematische Entmutigung der Massen die Maifeier in Deutschland zu schwächen. Allein, es hieße den lebendigen historischen Pulsschlag des proletarischen Klassenkampfes unterschätzen, wenn man annehmen wollte, daß die Ermattung der Maifeier auf die Dauer bestehen würde. Sobald wir in Deutschland eine Periode stürmischer Kämpfe, eine revolutionäre Situation haben, werden wir ein elementares Auflodern der Maifeier erleben, wie wir es nie erlebt haben. So war es in allen Ländern, und so wird es in Deutschland sein. In Rußland war die Losung der Maifeier vor 1912 ein toter Buchstabe, bis sie in dem genannten Jahre zum ersten Mal wie ein Blitz einschlug und eine Million Feiernder auf den Plan rief. In Frankreich gab es seit Fourmies und Carmaux keine so lebhafte Feier wie in den letzten Jahren. In Holland belebt sich die Maifeier Hand in Hand mit dem Wahlrechtskampf. Überall zeigt die Maifeier – weit entfernt, eine gemachte Parade von pedantischer Gleichmäßigkeit zu sein – einen ewigen Wechsel von Ebbe und Flut, ein lebendiges Auf und Ab des Klassenkampfes, seiner Heftigkeit und seiner Breite. Auch die Maifeier in Deutschland wird, wie so manche Seite des Partei- und Gewerkschaftslebens, die in der stillen Zeit versumpft oder verpfuscht worden ist, an der frischen Brise der stürmischen großen Auseinandersetzungen gesunden, die uns nicht erspart bleiben werden. Es wäre nichts verkehrter und beschämender für die deutsche Arbeiterklasse, als wenn der Vorschlag zur Abschaffung der internationalen Maifeier, dieses Zeugnis der Kleingläubigkeit und des Selbstverzichtes des Proletariats, gerade aus Deutschland käme. Es ist zu erwarten, daß die deutsche Delegation in Wien[1] dem Hamburger Beschluß die Abfertigung zuteil werden läßt, die er verdient.

Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin),
Nr. 82 vom 18. Juli 1914.

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[1] Der für die Zeit vom 23. bis 29. August 1914 nach Wien einberufene Internationale Sozialistenkongreß wurde durch den ersten Weltkrieg verhindert.