Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 446

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Zwischen Hammer und Amboß

Die jüngste Kundgebung der Gesellschaft für soziale Reform[1] in Berlin ist ein kleines Ereignis von historischem Interesse. Entsetzt über die brausende Flut der Scharfmacherei, wagte sich da ein Dutzend guter Leute und schlechter Musikanten in die Öffentlichkeit, um in einem ziemlich disharmonischen Konzert, in dem sich Lobgesänge auf die Sozialreform mit Hymnen auf die „patriarchalische“ Sklavenpeitsche des Unternehmertums und auf die gelben Vereine[2] mischten, ihre Stimme für die „Fortführung“ der glorreichen deutschen Sozialpolitik zu erheben. Die rührendste Gestalt unter diesen wackeren und unentwegten Rittern von Lamancha, die ihr Schwert aus Pappe gegen die eisernen Panzer der Scharfmacherei schwangen, war der greise Professor Schmoller. Derselbe Schmoller war es, der am 6. und 7. Oktober 1872 jene berühmte Versammlung in Eisenach zusammenberufen hatte, in der die illustresten Vertreter der deutschen Professorenwelt ein neues Evangelium der erstaunten Mitwelt verkündeten: den Schutz des wirtschaftlich Schwachen, die friedliche Sozialreform, „ein breites Gebiet des sozialen Gottesfriedens“, das sie in den erbitterten Partei- und Klassenkämpfen mit ihrer gelehrten, gottesfürchtigen und königstreuen Brust nach rechts und links zu verteidigen gelobten. Der damals gegründete Verein für Sozialpolitik war der Fels, auf dem mitten in den ‘brandenden Wogen der sozialen Gegensätze die lilienweiße Fahne des sozialen Friedens und der Ethik einem aufgehenden Zeitalter der Sozialreformen entgegenflattern sollte.

Die neckische Geschichte hat jene Gründung symbolisch zwischen zwei

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[1] Am 9. Mai 1914 hatte die Gesellschaft für soziale Reform in Berlin eine außerordentliche Generalversammlung durchgeführt.

[2] Die nach 1880 entstandenen „gelben“ Gewerkschaften waren von den Unternehmern ausgehaltene Streikbrecherorganisationen, die gegen die revolutionären Arbeiter kämpften. Die Bezeichnung „Gelbe“ stammt aus Frankreich, wo die Mitglieder der Streikbrecherorganisationen die Ginsterblüte als Vereinsabzeichen trugen.