Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 152

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Rede am 31. März 1912 in der Generalversammlung des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Berlins und Umgegend

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

Ich bin den Mariendorfer Genossen sehr dankbar dafür, daß sie mir durch ihr Mandat ermöglicht haben, hier zu sprechen. Als ich den Bericht von der vorigen Sitzung der Generalversammlung[2] las, war ich äußerst peinlich berührt durch die Art und Weise, wie der Vertreter des Parteivorstandes die Frage des Stichwahlabkommens hier vor Ihnen behandelt hat. („Sehr wahr!“) Nicht deshalb, weil ich persönlich bei dieser Verteidigung sehr schlecht weggekommen bin, ich bin persönliche Angriffe gewöhnt und nehme sie sehr kühl. Aber es hat mich peinlich berührt, daß der Vertreter der obersten Parteibehörde in eine so hochwichtige und ernste politische Frage einen Ton der persönlichen Gehässigkeit hineingetragen hat („Sehr richtig!“), statt mit gebührendem Ernst und mit Sachlichkeit eine so hoch wichtige Frage zu behandeln. („Sehr richtig!“ und Widerspruch.) Man kann über das Stichwahlabkommen dieser oder anderer Meinung sein; aber die oberste Behörde einer politischen Partei von unserer Größe und unseren Aufgaben muß sich von vornherein sagen: Auch ich kann einmal fehlen! Einen Anspruch auf Unfehlbarkeit und deshalb auf eine solche Reizbarkeit gegenüber der öffentlichen Kritik darf ein sozialdemokratischer Parteivorstand nicht haben. Wo kommen wir sonst hin? („Sehr richtig!“) Wer meine Artikel[3] gelesen hat, wird von ihrer strengen Sachlichkeit überzeugt sein. Genosse Braun behauptet, daß nur kapriziöse

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[1] Redaktionelle Überschrift.

[2] Die Generalversammlung des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend war am 17. März 1912 begonnen worden. In dieser Sitzung hatte Otto Braun versucht, das Stichwahlabkommen des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei mit der Fortschrittlichen Volkspartei zu rechtfertigen. (Zu den Stichwahlen im Januar 1912 hatte der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit der Fortschrittlichen Volkspartei ein geheimes Abkommen über gegenseitige Wahlhilfe abgeschlossen. Demzufolge sollte die Fortschrittliche Volkspartei in 31 Reichstagswahlkreisen die sozialdemokratischen Kandidaten unterstützen, während der sozialdemokratische Parteivorstand sich verpflichtete, in 16 Reichstagswahlkreisen „bis zur Stichwahl keine Versammlung abzuhalten, kein Flugblatt zu verbreiten, keine Stimmzettel den Wählern zuzustellen und am Wahltage selbst keine Schlepperdienste zu verrichten“. (Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. IV, Berlin 1967, S. 395.) Die Diskussion über diesen Punkt der Tagesordnung wurde in der Versammlung am 31. März weitergeführt.

[3] Siehe Rosa Luxemburg: Unsere Stichwahltaktik. In: GW, Bd. 3, S. 100–123, dies.: Rosa Luxemburg: Eine Verteidigung oder eine Anklage? In: ebenda, S. 134–145.