Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 26

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Kleinbürgerliche oder proletarische Weltpolitik?

Leipzig, 19. August

Kaum hat endlich die Massenaktion der Partei gegen die Marokkopolitik[1] begonnen, als auch schon der sicher sehr gutgemeinte, aber nichtsdestoweniger ganz verkehrte Versuch gemacht wird, diese Aktion in falsche Bahnen zu lenken. Im „Vorwärts“ untersucht Genosse Bernstein in zwei Artikeln[2] – die die Redaktion des Zentralorgans ohne jede Verwahrung an leitender Stelle abdruckt – die Frage, welche konkrete Losung wir unsrer Protestbewegung gegen den Marokkokurs geben sollen. Bernstein will offenbar „praktische Politik“ treiben. Und diese versteht er so, daß die Sozialdemokratie verpflichtet ist, „positive“ Vorschläge für die Lösung der weltpolitischen Schwierigkeiten zu machen. Wir als Sozialdemokraten sollen jetzt einen Ausweg finden, den wir den kapitalistischen Staaten als den „besten“ von allen Standpunkten und den gangbarsten zur Beilegung der Marokkowirrnis empfehlen. Wie soll die Sozialdemokratie eine ihr so wesensfremde Aufgabe lösen und Rezepte für die kapitalistische Diplomatie und ihre Kabinette ausarbeiten? Bernstein zeigt uns, wie das Kunststück zu machen ist. Da er aber als Sozialdemokrat dabei auch in ein ihm fremdes Handwerk pfuscht, so kommt etwas ganz Merkwürdiges heraus. Bernstein hebt schließlich als eignen Vorschlag der Sozialdemokratie einen zerknüllten Papierfetzen vom Boden auf, den er unter dem Tisch der Diplomaten fand, diesen streicht er auf dem Knie mit aller Sorgfalt glatt und hält ihn freudig in die Höhe als die einzige, die beste Lösung des Marokkokonflikts, die einzige Politik im Sinne des „Friedens und

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[1] Siehe S. 5, Fußnote 1.

[2] Eduard Bernstein: Die auswärtige Politik des Deutschen Reiches und die Sozialdemokratie. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 188 und 189 vom 13. und 15. August 1911.