Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 58

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Dem Weltkrieg entgegen. Rede am 7. Oktober 1911 in Stuttgart

Nach einem Zeitungsbericht

Das politische Interesse wird gegenwärtig mit Kolbenschlägen geweckt. Jeder, mag er einer Partei angehören, welcher er wolle, greift mit gespanntem Interesse nach seiner Zeitung. Dieses Interesse, mit dem das Volk nach dem italienisch-türkischen Kriegsschauplatz[1] blickt, drückt den Instinkt der Massen aus, die spüren, daß ihre Interessen mit auf dem Spiele stehen. Noch vor kurzem war mancher unter uns, der uns darauf hinwies, daß wir eine Zeit von 40 Jahren Frieden hinter uns haben. Daraus wurde die Schlußfolgerung gezogen, man gehe Zeiten entgegen, in denen eine friedliche Entwicklung möglich sei, die auch der Arbeiterschaft die erfreulichsten Perspektiven eröffne. Hingewiesen wurde auch auf das Haager Schiedsgerichtstribunal[2], das schlichtend eingreifen sollte. Auf der einen Seite der Dreibund und auf der anderen Seite der Zweibund wurden als die Säulen bezeichnet, auf denen das Gebäude des Friedens ruhe. Wo ist jetzt das Haager Tribunal? Wo sind Zwei- und Dreibund mit ihren Garantien für den Frieden? Alles liegt zerbrochen am Boden. Der Wahn vom Hineinwachsen in den Frieden ist zerronnen. (Zustimmung.) Die auf die 40 Jahre europäischen Friedens hinwiesen, vergaßen die Kriege, die außerhalb Europas sich abspielten und in denen Europa die Hand mit im Spiele hatte. Heute lecken die Flammen des Krieges an den Gestaden Europas, ein Weltenbrand droht auszubrechen. Der Gedanke der friedlichen Entwicklung ist unbarmherzig zerstört.

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[1] Im September 1911 hatte Italien einen Krieg gegen das türkische Reich provoziert. Unter Ausnutzung der imperialistischen Gegensätze um Marokko gelang es Italien im Oktober 1912, Tripolis und die Cyrenaica zu annektieren.

[2] Die Bildung eines Schiedsgerichtes zur Beilegung internationaler Streitigkeiten war 1899 auf der sogenannten ersten Haager Friedenskonferenz beschlossen worden. Seine Wirksamkeit wurde weitgehend dadurch eingeschränkt, daß die imperialistischen Großmächte keine Bereitschaft zeigten. dieses Schiedsgericht anzuerkennen.