Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 185

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Tolstois Nachlaß

Der literarische Nachlaß Tolstois, der in deutscher Sprache bei Ladyschnikow in Berlin erschienen ist, umfaßt in den drei Bänden neben mehreren kleineren Skizzen und Fragmenten in der Hauptsache die große historische Erzählung „Hadshi Murat“, die uns die Unterwerfung des Kaukasus durch Rußland um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schildert; drei Tendenzerzählungen, „Der Teufel“, „Der gefälschte Coupon“ und „Vater Sergius“; zwei Dramen, „Das Licht, das im Dunkel leuchtet“ sowie „Der lebende Leichnam“, endlich zwei Schilderungen des russischen Dorflebens aus der Zeit der Leibeigenschaft, „Ein Idyll“ und „Tichon und Malanja“. Außer den beiden letzten Novellen, die schon zu Beginn der sechziger Jahre entstanden sind, stammen alle aufgezählten größeren Werke aus den letzten zwei Jahrzehnten des Lebens Tolstois, und man könnte über die Frische, den Glanz und den Reichtum dieser Geistesprodukte eines mehr als Sechzig- und Siebzigjährigen staunen, wenn die Werke selbst nicht zugleich die beste Erklärung für die unerschöpfliche Fruchtbarkeit des Tolstoischen Genies böten.

Die landläufige bürgerliche Auffassung pflegt zwischen dem Künstler Tolstoi und dem Moralisten Tolstoi scharf zu unterscheiden; dem ersten wird jetzt unstreitig ein Platz unter den größten Schöpfern der Weltliteratur zugebilligt, der zweite wird als unheimlicher und abgeschmackter Geselle in die russische Wildnis verbannt, aus dem „slawischen“ Hange zum Tiefsinn und ähnlichem Unsinn erklärt und als halber Schwärmer und halber Anarchist, auf jeden Fall als Feind der Kunst im allgemeinen und seiner eigenen Kunst insbesondere beklagt. Aus dieser Auffassung heraus richtete auch seinerzeit Iwan Turgenjew seine bekannte Beschwörung an Tolstoi, sich um Himmels willen von der moralisch-philosophi-

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