Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 186

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schen Grübelei ab- und der herrlichen reinen Kunst wieder zuzuwenden, die an den prophetischen Marotten Tolstois zugrunde ginge. Eine solche Auffassung zeugt auf jeden Fall von völliger Verständnislosigkeit Tolstoi gegenüber, denn wer sein Ideenleben nicht versteht, dem ist auch seine Kunst oder wenigstens die wirkliche Quelle seiner Kunst verschlossen.

Tolstoi ist gerade darin vielleicht ein einziger in der Weltliteratur, daß bei ihm zwischen dem eigenen inneren Leben und der Kunst völlige Identität besteht, die Literatur ist ihm nur ein Mittel, seine Gedankenarbeit und seinen inneren Kampf auszudrücken. Und weil diese unermüdliche Arbeit und dieser qualvolle Kampf den Menschen ganz erfüllten und bis zu seinem letzten Atemzug nicht aufhörten, deshalb ist Tolstoi der gewaltige Künstler geworden und hat der Quell seiner Kunst bis an sein Lebensende in unerschöpflichem Reichtum und immer größerer Klarheit und Schönheit gesprudelt. Ohne große Persönlichkeit und große Weltanschauung keine große Kunst. Tolstoi suchte seit dem ersten Erwachen seines bewußten Geisteslebens nach Wahrheit. Aber dieses Suchen ist ihm nicht literarische Beschäftigung, die mit seinem Privatleben nichts zu tun hat wie bei den sonstigen „Wahrheitssuchern“ der modernen Literatur, es ist für ihn ein persönliches Lebensproblem, das all sein Tun und Empfinden erfüllt, das seine Lebensweise, sein Familienleben, seine Freundschafts- und Liebesbeziehungen, seine Arbeitsweise und auch seine Kunst vollkommen beherrscht. Dieses Suchen bewegt sich auch nicht in den zwerghaften Weltschmerzen eines „Individuums“, das sein liebes männliches oder weibliches Ich in dem Käfig der kleinbürgerlichen Existenz nicht ausleben kann wie bei Ibsen oder Björnson. Tolstois ewiges Suchen ist auf solche Lebens- und Daseinsformen gerichtet, die mit dem Ideal der Sittlichkeit im Einklang stehen würden. Sein sittliches Ideal ist aber rein sozialer Natur: Gleichheit und Solidarität aller Gesellschaftsmitglieder, basiert auf allgemeiner Arbeitspflicht, das ist es, nach dessen Verwirklichung die Helden seiner Werke unermüdlich tasten und streben: Pierre Besuchow in „Krieg und Frieden“, Lewin in der „Anna Karenina“, Fürst Nechljudow in der „Auferstehung“ sowie im Nachlaß der „Vater Sergius“ und endlich Sarynzew im „Licht, das im Dunkel leuchtet“. Die Geschichte der Tolstoischen Kunst ist Suchen nach der Lösung des Widerspruches zwischen diesem Ideal und den bestehenden Gesellschaftsverhältnissen. Da er von seinem Ideal in dem ganzen langen Leben und bis zu seiner Todesstunde um keinen Preis ablassen, mit dem Bestehenden nicht um eines Haares Breite Kompromisse schließen will, zugleich aber den einzigen gangbaren Weg zur Verwirklichung des Ideals, die Welt-

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