Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 464

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Rede am 14. Juni 1914 auf der 3. Generalversammlung des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Berlins und Umgegend

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

Genosse Ernst hat seine Unzufriedenheit darüber geäußert, daß der Drang der Massen zur Organisation nicht den Erwartungen entspricht, die wir an die Tatsache knüpfen, daß die Massen von den Herrschenden mit Skorpionen gepeitscht werden. Wir müssen uns leider, anstatt einen frisch-fröhlichen Kampf zu führen, mit der Frage beschäftigen, wie wir dem Rückgang der Abonnentenzahl des „Vorwärts“ und unserer Mitgliederzahlen entgegenwirken können. Worin liegen die Ursachen? Diese Frage ist beim Geschäftsbericht unerörtert geblieben. Die wirtschaftliche Depression ist sicher nicht ohne Einfluß geblieben. Aber es fragt sich, ob nicht die Art und Weise, wie wir den Kampf führen, geeignet ist, die Massen zu entmutigen. Daß darin gesündigt wurde, dafür haben wir ein klassisches Beispiel im Wahlrechtskampf. 1910 war er im schönsten Gange. Es folgten auf Versammlungen Straßendemonstrationen in immer gesteigerter Form. Aber gerade, als wir die glänzendste Demonstration erlebt hatten, erfolgte ein Wink. Wir sollten nach Hause gehen[2], denn die Reichstagswahlen[3] müßten vorbereitet werden. Unser Sieg bei diesen Wahlen war erfreulich, aber im Wahlrechtskampf geschah zunächst weiter nichts, bis vor kurzem wieder einmal 17 Versammlungen stattfanden.[4] Das Zentralorgan der deutschen Partei schrieb zwar, die zweite Etappe des Wahlrechtskampfes sei angebrochen, es gelte, die Sturmkolonnen zu formieren[5]; aber ich frage, ist das die zweite Etappe, was wir jetzt er-

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[1] Redaktionelle Überschrift.

[2] Nachdem der sozialdemokratische Parteivorstand, der Geschäftsführende Ausschuß der preußischen Landeskommission und die Redaktion des „Vorwärts“ im März 1910 beschlossen hatten, den Massenstreik nicht im „Vorwärts“ zu erörtern, um angeblich den Elan der Massen nicht zu hemmen, wurde die Wahlrechtsbewegung nach den Demonstrationen im April 1910 abgebrochen, und die Massen wurden auf die nächsten Reichstagswahlen und den parlamentarischen Kampf vertröstet.

[3] Die Reichstagswahlen wurden am 12. Januar 1912 durchgeführt. Die Sozialdemokratie konnte dabei 4,2 Millionen Stimmen gegenüber 3,2 Millionen im Jahre 1907 erringen und die Zahl ihrer Mandate von 43 auf 110 erhöhen. Sie wurde damit die stärkste Fraktion des Reichstags.

[4] Am 26. Mai 1914 hatten die Berliner Werktätigen in 17 Versammlungen gegen die Provokation des preußischen Innenministers (Am 18. Mai 1914 hatte der preußische Innenminister Friedrich Wilhelm von Loebell im preußischen Abgeordnetenhaus betont, daß die Regierung nicht beabsichtige, eine Verstärkung des Einflusses der Massen und eine Demokratisierung des Wahlrechts vorzunehmen.) protestiert und im Kampf um ein demokratisches Wahlrecht in Preußen die Anwendung der äußersten Machtmittel gefordert.

[5] Siehe Volkstrutz gegen Junkertrutz. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 139 vom 24. Mai 1914.