Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 465

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leben? Es ist außerordentlich gefährlich, solch schmetternde Kampffanfaren zu blasen, wenn man es nicht ernst meint. Ebert hat den Parteitag mit den Worten geschlossen: „Wir bekommen entweder das allgemeine Wahlrecht, oder es kommt der Massenstreik.“[1] Die gesamte Internationale blickte voller Erwartung nach Deutschland. Überall glaubte man wirklich, die Aktion von 1910 werde von neuem aufleben. Aber die Enttäuschung war groß. Eine solche Taktik wirkt nicht ermutigend. Ein anderes Beispiel erlebten wir bei dem schmählichen Klassenurteil gegen die Denkmalsünder.[2] Wir sind alle einig in der tiefsten Entrüstung darüber. Es war aber falsch, zu schreiben: die Tat sei ein Werk von Spitzeln. Wir konnten uns dagegen wenden, daß wir für die Tat verantwortlich gemacht werden, durften aber der bürgerlichen Presse nicht den Vorwand geben, ihre heuchlerische Entrüstung mit unseren Argumenten zu stützen. Ich zweifle, ob man schon gegen das Urteil eine Protestaktion in die Wege geleitet hat. Genosse Ernst hat auf der Generalversammlung von Teltow-Beeskow[3] wohl gesagt, der Vorstand wolle mitmachen, wenn die Masse die Initiative ergreife. Dies Versprechen darf aber nur mit einem Körnchen Salz genossen werden. Das beweist der von Stadthagen schon herangezogene Artikel aus dem Mitteilungsblatt.[4] Nicht unter den Kritikern sind die gekennzeichneten Leute zu suchen, die allerdings nicht in die Partei gehörten, wenn es solche gäbe. Der Verfasser sollte sagen, wen er meint. Zu einer starken Organisation gehören nicht nur gefüllte Kassen, sondern auch ein zielklarer Kampfgeist. Bezüglich des Wahlrechtskampfes unterbreite ich Ihnen folgende Resolution:

„Die Erklärung des preußischen Polizeiministers am 18. Mai im Abgeordnetenhaus[5] wie der ganze bisherige Verlauf des Wahlrechtskampf es haben klar bewiesen, daß einzig und allein der höchste Druck des

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[1] „Es ist so, wie ein Redner sagte: Entweder werden wir das freie Wahlrecht in Preußen haben, oder wir haben den Massenstreik.“ (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Jena vom 14. bis 20. September 1913, Berlin 1913, S. 555.)

[2] Am 8. Juni 1914 waren drei Berliner Arbeiter zu je 11/2 Jahren und ein Arbeiter zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, weil sie während der Werbewoche der Sozialdemokratie in der Nacht vom 10. zum 11. März 1914 am Kaiser-Friedrich-Denkmal in Charlottenburg die Aufschrift „Rote Woche“ angebracht hatten.

[3] Die Generalversammlung des sozialdemokratischen Zentralwahlvereins für Teltow-Beeskow fand am 7. Juni 1914 in Berlin statt.

[4] Organisationskritik. In: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend, 9. Jg., Nr. 3 vom 10. Juni 1914. – Verfasser dieses Artikels war der „Vorwärts“-Redakteur Ernst Däumig.

[5] Am 18. Mai 1914 hatte der preußische Innenminister Friedrich Wilhelm von Loebell im preußischen Abgeordnetenhaus betont, daß die Regierung nicht beabsichtige, eine Verstärkung des Einflusses der Massen und eine Demokratisierung des Wahlrechts vorzunehmen.