Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 426

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/426

Die andere Seite der Medaille

Die Zeitgeschichte scheint sich jetzt besonders Mühe zu geben, fast jeden Tag mit neuen glänzenden Belegen die Richtigkeit der sozialdemokratischen Auffassung vom Staate zu demonstrieren. Uns Sozialdemokraten wird seit jeher von bürgerlicher Seite der Vorwurf gemacht, daß wir gewissenlos den „Umsturz“ herbeiführen wollen, daß wir auf „Katastrophen“ hinarbeiten. Die Vorgänge in England[1] sind wieder ein klassischer Beweis dafür, wie wenig wir es nötig haben, uns nach Katastrophen zu sehnen, wie sehr die heutige Gesellschaftsordnung selbst durch ihre innere Zerklüftung aus eigenem Schoße unausgesetzt wirtschaftliche und politische Erschütterungen und Krisen gebiert.

Die Vorgänge in und um Ulster weisen in der Tat alle Merkmale der politischen Katastrophe für das öffentliche Leben Englands auf, einer Katastrophe, deren grundsätzliche Bedeutung erst dann plastisch hervortritt, wenn wir sie mit den analogen Erscheinungen in anderen Ländern zusammenstellen: mit der berühmten Dreyfus-Affäre in Frankreich[2] und

Nächste Seite »



[1] Anfang 1914 spitzte sich die Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Konservativen in England um die Lösung der irischen Frage zu, als Irland durch die Homerule ein gewisses Maß an Selbständigkeit zugebilligt werden sollte. Um dies zu verhindern, bereiteten die Konservativen die Abtrennung des am stärksten industrialisierten Teiles der Insel, des Gebietes von Ulster, vor und schufen dort bewaffnete Freiwilligenverbände. Die englische Regierung gab Befehl, Militär gegen diese Verbände einzusetzen. Die aristokratischen Offiziere einiger Regimenter weigerten sich jedoch, diesem Befehl Folge zu leisten, und reichten ihren Abschied ein. Sie wurden bei diesem Verhalten von Generalen des Oberkommandos unterstützt. Vor dieser Meuterei wich die liberale Regierung zurück und gab die schriftliche Zusicherung, daß das Heer nicht gegen Ulster eingesetzt werde.

[2] Im Jahre 1894 war der französische Generalstabsoffizier Alfred Dreyfus wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwies. Die Dreyfus-Affäre hatte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten geführt und Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht.